: Die einigende Kraft des Exils
■ Wie Kurdistan in Europa entsteht. Zur Kurdenfrage im Zeitalter der Medien und der Globalisierung. Ein Gespräch mit dem niederländischen Kurdologen Martin van Bruinessen
taz: Wie kommt man eigentlich zur Kurdologie?
Martin van Bruinessen: Ich fand damals, Anfang der 70er Jahre, die kurdische Frage interessant, weil die kurdische Bewegung nicht unseren damaligen Vorstellungen von fortschrittlichen Befreiungsbewegungen entsprach. Ich wollte mehr verstehen über die Rolle des Imperialismus in diesem Gebiet und warum ein Nationalführer sagt, daß er sein Land nicht unabhängig, sondern zum 52. Staat der USA machen möchte.
Wer war das?
Das war Mustafa Barzani. Damals solidarisierten wir uns mit fortschrittlichen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, und darunter gab es im Nahen Osten manch tribalistische, wie in Oman oder in Eritrea. Es gab nahöstliche tribalistische Befreiungsbewegungen, die galten als „links“. Und die Kurden galten immer als „rechts“.
Warum war das so?
Weil die Regierung des Irak als linke Regierung galt, die sich alliiert hatte mit der Sowjetunion. Aber es hatte noch andere Gründe: Es hatte mit der Herrschaftsstruktur der kurdischen Gesellschaft zu tun und damit, daß tribalistische Verhältnisse immer noch nicht überwunden waren.
Nun gibt es ja mehr als eine kurdische Nationalbewegung mit unterschiedlichen Zielen.
Auf der Ebene des Diskurses sagen fast alle Kurden, wenn sie etwas nationalistisch orientiert sind, daß sie einen einheitlichen kurdischen Staat wollen. Die meisten politischen Bewegungen aber sind pragmatisch. Im Irak und im Iran haben sie nie etwas anderes befürwortet als Autonomie für Kurdistan und Demokratie für den Irak oder den Iran, und das bedeutet auch, daß sie in der jeweiligen Landespolitik eine wichtige Rolle spielen wollen. Man will nicht nur in Kurdistan autonom sein, sondern man will auch auf Bagdad oder Teheran Einfluß haben. Die PKK hat von Anfang an über eine Befreiung ganz Kurdistans geredet. Sie hat Sympathisanten und vielleicht sogar Mitglieder in anderen Teilen Kurdistans, und sie macht Propaganda auch unter Kurden des Irak und des Iran. Aber ihr wichtigstes politisches Ziel ist, Verhandlungen mit der Türkei zu erreichen.
Die spezifische Situation hat also die politischen Ziele geprägt.
In der Türkei, und in gewissem Maße auch im Iran und im Irak, hat sich der politische Diskurs in der Landessprache entwickelt; man diskutierte ja mit arabischen oder iranischen Nationalisten. In der Türkei lernte man die türkische Sprache in der Schule. Man war in einem türkischen politischen System aktiv, und man formulierte seine Ideen im Gegensatz zu türkischen politischen Ideen. Die Denkweise der türkischen Kurden ist türkisch. Alle kurdischen Nationalisten in der Türkei sind stark von kemalistischen Ideen geprägt.
Macht es denn heute noch Sinn, von Kurdistan als Einheit zu sprechen?
Die Frage ist, hat man das je tun können? Wir sprechen über „die Kurden“ und verbinden damit die Annahme, daß die Kurden ein Volk sind, eine Nation, eine ethnische Gruppe. Das behaupten natürlich auch alle kurdischen Nationalisten. Es hängt von unserer Definition ab, ob die Kurden eine Nation oder eine ethnische Gruppe sind. In mancher Hinsicht gehören sie zur Zeit drei oder vier Nationen oder ethnischen Gruppen an, denn die verschiedenen Teile Kurdistans sind wenig miteinander verbunden. Der türkische Teil Kurdistans ist stärker in die türkische Wirtschaft und die türkische Gesellschaft, auch in die türkische Politik eingebunden als in die irakische oder iranische.
Welche kulturellen Merkmale unterscheiden denn beispielsweise die Kurden in der Türkei von den Türken?
In jedem Gebiet können wir Kurden von ihren Nachbarn unterscheiden. Aber die Merkmale, die sie in der Provinz Maras oder Sivas von den Türken unterscheiden, sind nicht dieselben Merkmale, die sie in Erzurum von den Türken unterscheiden. Sie sind verschieden von den Türken in Sivas, aber diese Merkmale teilen sie nicht mit den Kurden anderswo. Es ist fast unmöglich, kulturelle Elemente zu finden, die alle Kurden gemeinsam haben und die sie nicht mit anderen teilen.
Inwieweit verbindet die Sprache?
Ist es eine Sprache? Oder sind es zwei, drei, vier verschiedene Sprachen? Welche linguistischen Merkmale gibt es, die alle kurdischen Dialekte gemeinsam haben? Und die sie alle trennen von anderen iranischen Dialekten? Kaum. Vielleicht das Wort für „gehen“ – das ist eines der wenigen Verben, das man in anderen kurdischen Dialekten findet und nicht in anderen iranischen Sprachen.
Welche Rolle spielt die Religion unter den Kurden?
Die Mehrheit der Kurden sind Muslime, und im großen und ganzen fromme Muslime. Es gibt aber nicht nur sunnitische Kurden, es gibt auch alevitische Kurden in der Türkei und im Irak, und im Iran gibt es einige heterodoxe Gruppen. Trotzdem hat es bis vor kurzem keine nennenswerte islamische Bewegung unter den Kurden gegeben. Alle nationalen Bewegungen der Kurden waren immer säkular. In den 80ern hat der Iran versucht, unter den Kurden des Irak islamistische Bewegungen zu gründen oder zu fördern, aber das ist nie richtig gelungen. Erst mit dem Ende der 80er sehen wir dort eine islamische Bewegung aufkommen, die jetzt vielleicht etwas mehr eine Alternative darstellt, weil PUK und KDP in den Augen der Bevölkerung viel Prestige verloren haben. Aber sie könnte nie die führende Bewegung Kurdistans werden. Im türkischen Teil gibt es, in den Gegenden von Taman, Diyarbakir und Bingöl, die Hizbullah-Bewegung. Die PKK, die als atheistische Bewegung angefangen hat wie alle linken Bewegungen in der Türkei, hat mit der Zeit entdeckt, daß die meisten Kurden keine Atheisten sind, daß man mit atheistischer Propaganda unter der Dorfbevölkerung nicht so weit kommt. Sie haben Selbstkritik geübt, 1989 glaube ich, und seitdem sind sie nicht mehr antiislamisch eingestellt. Sie erkennen an, daß der Islam ein wichtiger Faktor ist, und es gibt jetzt, in der PKK oder mit der PKK verbunden, zwei sunnitisch-islamische Vereine. Das hat natürlich dazu geführt, daß die Aleviten und die Yeziden, die immer von den Sunniten unterdrückt worden sind, sich etwas von der PKK distanziert haben. Seitdem hat die PKK auch alevitische und yezidische Vereine gegründet. Religion ist also sichtbar etwas wichtiger geworden im politischen Diskurs.
Woran scheitert denn eine gemeinsame Politik? Selbst PUK und KDP bekriegen sich ja in der Schutzzone?
Der wichtigste Grund dafür ist vielleicht die wirtschaftliche Lage. Es gibt nur sehr beschränkte Einkommensquellen, und die Grenzübergänge sind davon die wichtigsten. Der wichtigste Grenzverkehr geht über die türkisch-irakische Grenze, und diese Grenze wird von einer der beiden Parteien kontrolliert. Seit einigen Jahren werden die Einnahmen, der Zoll, nicht mehr miteinander geteilt.
Und woran scheitert eine Lösung in der Türkei?
Da gibt es mehrere Hindernisse. Erstens könnte man sich fragen, ob die türkische Armee wirklich eine Beendigung des Konflikts will. Der Konflikt ist für die Armee sehr gut gewesen: Sie haben einen sehr hohen Etat, einen sehr hohen Status, und die türkische Politik ist völlig unter ihrer Kontrolle. Deshalb braucht die Armee wahrscheinlich immer noch die PKK: Zweitens gibt es auch noch andere, die den Konflikt brauchen, etwa Syrien. Solange die Türkei noch diese Staudämme hat und Syrien innerhalb von ein paar Wochen austrocknen lassen kann, braucht Syrien etwas, um die Türkei zu destabilisieren. Syrien wird es nicht zulassen, daß die PKK erfolgreiche Verhandlungen mit der Türkei durchsetzt. Ich nehme an, daß, wenn es die Möglichkeit für erfolgreiche Verhandlungen gibt, Özalan dann so schnell wie möglich die Türkei verlassen muß – wenn es ihm möglich ist. Er ist natürlich auch eine Geisel.
Welche Rolle spielt der Drogenhandel im Krieg?
Meinen Sie, welche Rolle spielt der Drogenhandel im Krieg oder der Krieg im Drogenhandel? Ich denke, daß beide Parteien stark finanziert werden durch den Drogenhandel. Ob die PKK ihre eigenen Schmuggellinien hat, weiß ich nicht. Dafür, wie behauptet wird, gibt es auch keine Beweise, und ich glaube auch, daß Interpol dafür keine Beweise gefunden hat, bis jetzt. Wir wissen aber, daß einige der kurdischen Drogenfamilien die PKK aktiv unterstützt haben.
Und der türkische Staat?
Organe des türkischen Staates spielen sicher eine wichtige Rolle. Wir wissen, daß der Geheimdienst und die Gendarmerie einen großen Teil des Transports innerhalb der Türkei übernommen haben und auf sehr hoher Ebene Teile der Polizei und vielleicht auch militärische Funktionäre in den Drogenhandel verwickelt sind. Im vorigen Jahr wurde die sogenannte „Bande von Yüksekova“ aufgerollt, und darin trifft man Dorfschützer, Polizeibehörden, Militärbehörden der Türkei und PKK- Nahe, alle in einem Netz. Sie hat Heroin über die türkisch-iranische Grenze geschmuggelt.
Welche Bedeutung hat das Exil für die kurdische Nationalbewegung?
Eine extrem hohe. Als Symbol bleibt Kurdistan natürlich weiterhin ungeheuer wichtig, und die große Mehrheit der Kurden wohnt auch immer noch in Kurdistan. Aber es ist wahrscheinlich wahr, daß diejenigen, die außerhalb Kurdistans leben, die wichtigere politische Rolle spielen. Fast alle nationalistischen Parteien und Vereine sind außerhalb Kurdistans veröffentlicht und auch gelesen, denn der Vertrieb in der Region ist schlecht und gefährlich, und was in Istanbul gestattet ist, ist noch lange nicht erlaubt in Bitlis oder Diyarbakir. Deshalb entwickelt sich der Diskurs im Exil. Jetzt gehört auch Istanbul zu diesem produktiven Exil, in den 80ern war das Europa. Die kurdische Sprache ist als lebendige Schriftsprache in Europa neu geboren worden – es hat sie schon immer gegeben, aber sie hat sich in Europa sehr stark entwickeln können. Gelder können viel leichter in Europa eingetrieben werden, die Leute sind bereit, für viele Projekte zu spenden, auch für die PKK – freiwillig oder unfreiwillig, aber doch erstaunlich viele freiwillig. Leute werden rekrutiert. Leute studieren hier, und so etwas wie MED-TV [das kurdische Satellitenfernsehen; D.B.] ist ein wirklich revolutionäres Phänomen. Die Kurden sind das erste Volk ohne Staat, das damit jetzt die Möglichkeit der Nationenbildung hat. Denn Fernsehen ist hierfür ein sehr kräftiges Medium, und in allen Teilen Kurdistans schaut man MED-TV. Das trägt erheblich zur Integration der verschiedenen Teile Kurdistans bei. Ich denke, es ist das Exil, das die Kurden letztlich vereinen wird. Interview: Daniel Bax
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