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AnalyseHeuchelei um Europa

■ Kohl hinterfragt auf dem Gipfel in Cardiff die Kompetenzen der EU

Bundeskanzler Helmut Kohl wird die Europäische Union zunehmend lästig. Mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac ist er sich einig, daß sich die EU zuviel in nationale Angelegenheiten einmischt. Auf dem EU-Gipfel in Cardiff wollen sie deshalb mit den anderen 13 Regierungschefs über Grundsätzliches reden: Worum soll sich die Europäische Union kümmern, und wo soll sie besser die Finger rauslassen?

Kohls Stichwort heißt Subsidiarität. Der Begriff kommt aus der katholischen Soziallehre und bedeutet, daß erst einmal jeder für sich selbst verantwortlich ist. Wenn er nicht mehr weiter kann, kommt die Familie und erst, wenn die überfordert ist, muß die Gesellschaft einspringen. Auf Europa übertragen heißt das: Die EU soll nur regeln, was die Nationalstaaten nicht mehr schaffen. Die Diskussion ist längst überfällig. Die Agrarpolitik beispielsweise, die zur Zeit die Hälfte des EU-Budgets ausmacht, können die nationalen Regierungen und vermutlich sogar die Bundesländer besser regeln. Auch Bereiche wie der Tierschutz oder die Normierung von Überrollbügeln für Traktoren müssen nicht unbedingt EU- weit verordnet werden. Bei der Wettbewerbspolitik dagegen, beim grenzüberschreitenden Umweltschutz oder bei der Außenpolitik sind die Regierungen auf die EU angewiesen. Ein klarer Kompetenzkatalog, wo die EU zuständig ist und wo die Nationalstaaten, würde nicht nur Klarheit schaffen. Er würde die EU auch für die Bürger durchsichtiger machen, weil sie wüßten, wer wofür verantwortlich zu machen ist.

Doch genau das will Kohl nicht. Denn ein Kompetenzkatalog käme einer europäischen Verfassung ziemlich nahe, und das sähe nach mehr und nicht nach weniger Europa aus. So etwas paßt zur Zeit nicht in die politische Landschaft. Zudem läßt sich mit der diffusen Machtverteilung, wie sie derzeit existiert, besser Politik und noch besser Stimmung machen. Es gibt eine Reihe von Beispielen, wo die Bundesregierung EU-Regeln mitbeschlossen und die Verantwortung dafür anschließend Brüssel zugeschoben hat. Die unschönen Massenschlachtungen bei der Schweinepest z.B. oder die Vorschriften über den Krümmungsgrad von Gurken. Wenn er in Cardiff über Subsidiarität redet, redet er vor allem für die Galerie. Die Agrarpolitik beispielsweise möchte Kohl auf keinen Fall in nationale Verantwortung zurücknehmen. Das bringt nur Ärger. Sicher ist, daß ihm die Wettbewerbskontrolle auf die Nerven geht, seit ihm die EU-Kommission die übermäßigen Subventionen für VW in Sachsen untersagt und die Kirch-Bertelsmann-Fusion verboten hat.

Was Kohl wirklich will, hat er bisher nicht gesagt. Vermutlich möchte er nur den Wählern zeigen, daß er notfalls auch eurokritisch sein kann. Alois Berger

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