: Tücken der Technik
■ Btr.: „Wir fallen zurück in die or ganische Welt“, „Erster Unfall bei Tempo 200“, Tagesthema zum ICE-Unglück, taz v. 5. und 6.6.98
Die Technologie der modernen Hochgeschwindigkeitseisenbahnen ist weit entwickelt, wie aus der Tatsache ersehen werden kann, daß die Summe der technologischen Entwicklungen im Eisenbahnbereich in den letzten 170 Jahren zu einer kontinuierlich-inkrementellen Verbesserung hinsichtlich Sicherheit (nicht nur für Passagiere und Güter, sondern wohl auch gerade für die Bediensteten der Bahnen) führte – ein wohl nur durch Zyniker bestreitbarer Tatbestand. Bemerkenswert erscheint mir der Wandel von der in den letzten Jahrzehnten überwiegenden (Eisenbahn-)Unfallursache „menschlicher Faktor“ – z.B. menschliche Fehlurteile, Fehlreaktionen, die zu verheerenden Katastrophen (sowohl in Verlusten an Personen als auch Sachen) führten – hin zu einer Unfallursache (vermutlich) technischen Ursprungs. Die Unfallursache durch technisches Gebrechen ist für die „Normaljuristerei“ zweifellos weniger ergiebig, als wenn das Irren eines Menschen durch ein Gericht verfolgt werden kann. [...] Gerhard Urban, Wien
Die Behauptung, daß es bei einem Zug mit Jakobsdrehgestellen anders ausgesehen hätte, wage ich zu bezweifeln... So wie es derzeit scheint, ist der mit mindestens einer Achse entgleiste Zug noch ein paar Kilometer gefahren – genau das, was man als Vorteil des Jakobsdrehgestells ansieht. In der Weiche wäre auch das Jakobsdrehgestell ausgewichen... und das hätte bei 200 km/h nicht sehr viel anders ausgesehen, da die bei einem solchen Unfall freiwerdenden Kräfte ausgereicht hätten, die Wagenkästen von den Drehgestellen zu trennen. [...] Was mich – wenn wirklich ein Rad gebrochen ist – interessiert, ist das Ergebnis der am Morgen an diesem Zug durchgeführten Untersuchung. Sollte der Zug nämlich wirklich das Bw unbeanstandet verlassen haben, dann wird mir zumindest ganz anders, und das nicht, weil ich notorischer Bahnfahrer bin, sondern weil mir nach kurzen Nachdenken eine ganze Menge Sachen einfallen, die mit Ultraschall untersucht werden. Ramiro Piñeiro y Neubeck
Leer sollen sie also gewesen sein, die Bilder aus Eschede, und hohl der Schrecken, den sie verbreiteten, als sie uns zeigten, was von einem ehemals vierhundert Meter langen Zug übriggeblieben war. So jedenfalls sieht es Patrick Schwarz in seinem Artikel über die ungewöhnliche Zurückhaltung bei der Berichterstattung über das Zugunglück.
Da wurden uns einmal nicht Blutlachen in Nahaufnahme und verzweifelte Angehörige am heimischen Fernseher geboten, und schon soll der Bildschirm zum Schutzschild geworden sein, der uns den Schmerz erspart.
Das Leid trägt kein Gesicht, resümiert Herr Schwarz – das Leid hat viele Gesichter, doch gehören zu diesen Gesichtern auch Menschen, die man einmal nicht vor die Kamera und Mikrofone gezerrt hat, damit uns der kalte Schauer über den Rücken laufen kann.
Wäre der Schrecken dieses Unglücks durch ein paar abgetrennte Gliedmaßen am Bahndamm denn faßbarer gewesen? Reicht die Nachricht von fast 100 Toten nicht mehr aus, um uns betroffen zu machen? Oder wurde einfach einmal nicht der uns fast allen eigene Voyeurismus befriedigt? Frauke Habermann, Hamburg
Eine kabarettübliche Sache ist, Politikerinterviews ohne Veränderung wörtlich auf der Bühne wiederzugeben. Ins kabarettistische Bühnenlicht gesetzt, offenbaren sich dann Hohlheit und Widersinn drastisch, ohne daß es eines Kommentars bedürfte. Schade, daß wir unsere diesjährigen Aufführungen gerade hinter uns haben. Ihr abstruses Interview mit dem „Geschwindigkeitsforscher“ (was zum Teufel ist das eigentlich?) wäre wunderbar geeignet gewesen, entsprechend einmal pseudowissenschaftliche und banalitätsverschleiernde Papierblasen bloßzustellen. Walter Westphal, Kabarett „Die Spielverderber“, Kiel
Opfern wir Menschen für Minuten? So oft der Vorwurf auch erklingt, er ist hier nicht berechtigt. Hohe Geschwindigkeit ist eben nicht auch hohes Risiko. Denn im Schienenverkehr verbindet sich hohe Geschwindigkeit nicht nur mit hoher Materialbelastung, sondern auch mit sicherer Spurlage, hinzu kommt ein ausgeklügeltes Wartungskonzept, alles heute Mögliche wurde getan, um maximale Sicherheit zu gewähren.
Mit erhobenem Zeigefinger predigt man nun den Rückschritt ins Mittelalter, doch Technik ist nie ein fremdes Wesen, sie ist immer nur so perfekt wie die Summe der Menschen, die sie bauen. [...] Der Schlag ins Gesicht schmerzt, doch fatal wäre, jetzt die falsche Konsequenz zu ziehen: Noch immer fordert der Straßenverkehr jedes Jahr Tausende von Toten, und, viel schlimmer, ihnen schenkt niemand Beachtung. Peter Nuding, ZDL aus Stuttgart
Wenn es tatsächlich sein sollte, daß die ICE-Katastrophe von Eschede auf einen „technischen Fehler“ zurückzuführen ist, dann darf gespannt erwartet werden, ob sich die Staatsanwaltschaft mit dieser physikalischen Erklärung zufrieden geben wird und die Akten schließt. Man könnte nämlich auch in der Bahn-Hierachie nach oben, Richtung Management, Aufsichtsrat, weiter ermitteln. Wird nämlich das Escheder Zugunglück einmal unter dem Gesichtspunkt einer ökonomischen Erklärung hin untersucht, kommt man vielleicht doch zu dem Ergebnis: menschliches Versagen. [...] Bis jetzt war seitens des Aufsichtsrats der Bahn-AG jedenfalls noch keine Entschuldigung zu hören, die längst überfällig ist. Alle Erklärungen und Statements haben die gleiche Botschaft: Uns Herren trifft keine Schuld, da sind wir uns einig und ganz castor. Dieter Weis, Estenfeld
Bahnkunden, Gesellschaft und vor allem die Presse dürfen sich nicht daran gewöhnen, daß nun auch die Bahn und andere öffentliche Verkehrsmittel dem Ziel höherer Gewinne wetteifern, wie dies die Autoindustrie seit Jahrzehnten ungeschoren tut. Die „christliche Gesellschaft“ akzeptiert das Massensterben auf den Straßen, billigt die Zerstörung der Umwelt, wenn nur die Gewinne stimmen. [...] Ludwig Berger, Buchen
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