: Fracht ist Macht
Andrew Lloyd Webbers verkannter Beitrag zur Verkehrswissenschaft: Das Musical „Starlight Express“ in Bochum feierte sein zehnjähriges Jubiläum mit einer Gala ■ Von Niels Werber
Freund oder Feind. Entweder man weint in Webbers Musicals, oder man geht hinaus – angewidert von so viel Kitsch in nur einer Szene. Die rührige Stella AG, die hierzulande für eine flächendeckende Webberisierung sorgt, hat dies bei der Starlight-Gala wohlweislich berücksichtigt, denn die durchweg geladenen Gäste, darunter viele Einsteiger, gelangten nicht ohne den Konsum mehrerer Gläser Champagner aus der Bahnhofsvorhalle in die Hauptstation. Die Vorurteile der E-Kunst-Konsumenten blieben so am Eingang zurück und wichen einer wohlwollenden Haltung, die der turbulente Beginn der Show schnell zur Entscheidung zwang. Nach einem Kickstart, der alles aufbietet, was die Lokomotiven auf Rollerskates stimmlich, akrobatisch, optisch und vor allem dromologisch an Bord haben, ist man entweder unbedingt dafür oder vehement dagegen: tertium non datur.
Das Musical hinterläßt Fans und Feinde. Das ist gut so, denn die Fans kommen wieder, immer wieder, fünfzigmal, hundertmal. Dieser Vorgang, der mir aus den Gefilden der hochsubventionierten Elitekultur unbekannt ist, führt dazu, daß diejenigen unter den Zuschauern, die die Texte nicht mitsingen können, die den Countdown für das große Entscheidungsrennen zwischen dem E-Zug Elektra und der Dampflokomotive Rusty um die Liebe Pearls, des Erste-Klasse- Waggons, nicht mitgrölen und die nicht schon vor den spektakulärsten Szenen der High-Speed-Dramaturgie laut aufkreischen, zu einer schrumpfenden Minderheit gehören. So wird in diesem Piscator- Theater, in dem sich Bühne und Zuschauerraum ineinander verweben, das Publikum eins mit der Aufführung, die nur noch den Takt vorgibt für die das autoenthusiasmierende Ritual der Zuschauer, für dessen Zelebrierung die Hohepriester des Fan-Clubs Sorge tragen. Die Begeisterungswoge der Starlight-User zwingt die Erstkonsumenten in das Zuschauerkollektiv – oder stößt sie ein für allemal ab. Starlight ist „Camp“: Die Kostüme sind auf eine perfekte Art trashig und neigen zur Überschreitung der Gender-Grenzen; der Sound variiert alle Stile vom Blues der Dampflok bis zum Kraftwerk-artigen E-Pop der E-Loks, vom Elvis-Rock der Diesellok bis zum Countrysong des Diner-Waggons, und die Schauspieler singen die deutschen Texte mit einem supercharmanten Howard-Carpendale-Akzent. Starlight ist populäre Kultur – 6,8 Millionen Besucher können nicht irren. Der Zahlenfetischismus gehört unbedingt dazu: 79.244 reparierte Rollschuhachsen in zehn Jahren, Rustys 8.000 zurückgelegte Meilen, 800 Meter verbrauchte Pflaster. Das sind Fakten, die allesamt Trivial-Pursuit-tauglich sind und mehr begeistern als elitäre ästhetische Kategorien, die zur Selbstbeschreibung dieses Phänomens denn auch wahrlich nicht benutzt werden. Der Triumph der „Oberfläche“ über den „Gehalt“, laut Susan Sontag symptomatisch für „Camp“, ist zumindest ein wenig schade, da das Libretto Beobachtungen von einer erstaunlichen Tiefe enthält, von der aus das Wettrennen der Dampf-, Diesel- und E-Loks zum Teil einer komplexen Allegorie auf die Konkurrenz der Energieträger wird. Und der Refrain des Chors der Schwerlast-Anhänger „Fracht ist Macht“ hätte auch einer Oper von Brecht und Weill alle Ehre gemacht. Da es allerdings bei Webber nicht um Distanz, sondern um Immersion geht, sollte ein Novize hier nur vorbereitet einsteigen. Ein kleiner Schwips kann dabei nicht schaden.
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