piwik no script img

Landpartie mit Sonnengott

■ Auch vom „Jazz Baltica“-Festival hat die Welt der Schaumstoffkissen Besitz ergriffen

Wer auf dem Atlas mit dem Zirkel einen Kreis um Warschau schlägt, die Hauptstadt des osteuropäischen Jazz, und einen weiteren um Oslo, Sitz des legendären Rainbow-Studios, wird als Schnittmenge ein hügeliges Stückchen Holsteinische Schweiz erhalten – mittendrin das kleine Gut Salzau. Zum achten Mal zog es an diesem Wochenende Jazzfans mit Ruck- und Schlafsäcken in die umgebaute Scheune. Wenn in den Baumwipfeln um den Schloßteich Verliebte sitzen und sich auf der Terrasse die Stirnfalten der Jazzkritiker glätten (während sich ihre Laptops leise abschalten), wird klar: Ein ganz normales Festival ist das nicht, es hat ein bißchen von Ferien auf dem Bauernhof.

Kaum zu glauben, daß das alles einmal als Kopfgeburt Björn Engholms galt, der sich nach 1989 für sein strukturschwaches Land eine Vermittlerrolle zwischen Osteuropa und Skandinavien erträumte. Die Musiker verliebten sich zuerst in das Festival, dann die Kritiker, seit zwei Jahren nun hat man endlich auch die Herzen des reservierten norddeutschen Publikums erobert. Der größte Teil des Budgets kommt heute von privaten Sponsoren und dem Kartenverkauf. Als Herzstück gilt das festivaleigene Ensemble, das in diesem Jahr vom schwedischen Trompeter Bengt- Arne Wallin zusammengestellt wurde – und zwar aus den Größen der skandinavischen Avantgarde.

Aus dem letztjährigen Ensemble ging der in diesem Jahr gefeierte Trompeter Nils-Petter Molvaer hervor, dessen „Khmer“-Projekt Drum'n'Bass und Ambient mit dem Sound des elektrischen Miles Davis der frühen siebziger Jahre verbindet. Doch was für das ECM- Label ein Riesenschritt in Richtung Club Culture bedeutete, erwies sich auf der Bühne als kleiner Schritt für die Menschheit. Ähnliche Grenzgänge haben populäre Künstler wie Tab Two schon vor Jahren unternommen. Als Vertreter des zeitgenössischen Jazz aus Osteuropa trat der polnische Trompeter Tomasz Stanko auf. Er spielte Kompositionen des verstorbenen polnischen Pianisten Krysztof Komeda, der die Filmmusiken zu den frühen Polanski-Filmen geschrieben hat.

In diesem Jahr hat man sich für den Einbau publikumswirksamer Zugnummern wie Paolo Conte oder Bootsy Collins entschieden. Mit dem Ostseeraum hat das kaum noch was zu tun, auch mit dem Begriff „Jazz“ geht man mittlerweile flexibel um. Ausgerechnet bei Contes Chanson-Abend wurden die Stühle aus der Scheune entfernt, um bei ausverkauftem Haus mehr Platz für Zuschauer zu schaffen, und gleichzeitig Schaumstoffkissen verkauft. Mit dem Sturm der Entrüstung, der aggressiven Verteidigung von Quadratmetern auf dem Betonfußboden, hatte man auf seiten der Veranstalter nicht gerechnet. Schon nach dem zweiten Abend des Festivals titelte die regionale Tageszeitung: „Mißtöne in Salzau“. Hat der Pöbel von der früheren Domäne der schönen Muse Besitz ergriffen? Tatsächlich steht das Festival vor einem Dilemma: Will es in Zeiten knapper öffentlicher Kassen überleben, müssen Karten verkauft werden. Die Konzertscheune ist mit 1.200 Plätzen am Rande ihrer Aufnahmekraft. Hinzu kommen die Kameraanlagen des ZDF, die die qualvolle Enge noch verschlimmern. Die einzigartige Atmosphäre des Festivals ist gefährdet, und zwar gerade durch den Erfolg.

So hielten auch die „legendären“ nächtlichen Sessions im Herrenhaus dem Vergleich zum Vorjahr nicht stand. Auch das herbeigemunkelte „Duell“ zwischen Bootsy Collins und Marcus Miller fand nicht statt. Trotzdem brachte der Auftritt von Collins den Tarantino-Touch nach Salzau. Sein Konzert war eine einzige Inthronisierung des selbsternannten Funk- Königs durch seinen Hofstaat, in dem gleich einer amerikanischen Soap-opera die Rollen fest verteilt sind: die Schöne, der Schwule, Fred Wesley (der Posaunist von Maceo Parker) in der Rolle des mafiosen Patenonkels, nicht zuletzt wir, das zuschauende Fußvolk, das dem Funk-Man im Pfauenkleid huldigen soll... irgendwie paßt es aber zum Geist des Ortes. Ist die extravagante Hutmode der Landesmutter Heide Simonis nicht ebenfalls ein Relikt vormoderner Stammessymbolik?

Das Finale hatte dann wieder Parallelen zur Welt des Christoph Schlingensief: Der Meister stieg hinab von der Bühne, um sich im Tanz mit dem Volk zu vermengen, während an seiner Stelle ein Rollstuhlfahrer auf die Bühne gehoben wurde (der aber Nils-Petter Molvaer nach eigenen Aussagen „viel besser“ fand). Collins' Truppe verschwand denn auch nach dem Konzert sofort im Sleepliner, um über die Autobahnabfahrt im „P-Universum“ zu verschwinden.

Mit dem vielbeschworenen „Geist von Salzau“ hat das natürlich nicht mehr sonderlich viel zu tun. Gut, Verliebte sitzen immer noch in den Bäumen, Journalisten mit Laptop im Gras. Beim Baden im Selenter See sind Musiker, Kulturpolitiker, Kritiker und Fans gleichermaßen nackt, und wenn Michael Naura mehr im Bierzelt als am Bühnenrand zu sehen ist, ahnt man, daß sein Urteil auch dieses Jahr wieder milde sein wird.

Und eine Chance für das nächste Jahr bleibt ja: Das Festival ist vom Publikum akzeptiert, jetzt sind die großen Namen aus Übersee nicht mehr so wichtig. Man könnte sich wieder auf die eigentliche Stärke besinnen: die persönlichen Kontakte im Ostseeraum. Noäl Rademacher

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen