Die Freiheit à la Clinton

Pekings Studenten feiern den amerikanischen Präsidenten wie bei einem Popkonzert, doch sie verstehen ihn nicht  ■ Aus Peking Georg Blume

Manchmal ist Bill Clinton wie Coca-Cola: so süß, so prickelnd, so erfrischend. Nicht anders wirkt der amerikanische Präsident auf Tausende chinesischer Studenten, die ihn gestern in der schwülen Mittagshitze eines grauen Pekinger Sommertages sehnlichst erwartet haben. Jubel wie bei einem Popkonzert bricht aus, als der Staatschef mit den Qualitäten eines Showstars endlich die Freilichtbühne inmitten des grünen Campus der berühmten Peking-Universität betritt. Clinton verschwendet keine Zeit, um das Publikum auf seine Seite zu holen: „Die Peking-Universität ist nicht die Harvard-Universität Chinas“, korrigiert der Präsident einen Vorredner, „sondern Harvard ist die Peking-Universität Amerikas.“ Da dröhnt der Applaus, und Clinton hat schon gewonnen: Nun werden ihn die Fernsehbilder in Amerika als Helden der chinesischen Jugend zeigen – und zwar an genau jenem Ort, wo vor neun Jahren die Studentenrevolte begann.

Die Begeisterung im Publikum hält auch dann noch an, als der Präsident längst wieder andere Wege geht. „Er ist nett und charmant und dabei noch so jung für einen Politiker“, versichern Studentinnen in Jeans und Sommerblusen. „Er weiß genau, was wir hören wollen.“ „Einfach toll, wie er China ein altes Land nennt, das mit uns eine neue Jugend erlebe.“ Die Studentinnen reden, als hätte gerade ein großes Rockidol ihre Lieblingssongs gespielt.

Dabei ist doch alles ganz ernst gemeint, was Bill Clinton seinen jungen chinesischen Zuhörern am vierten Tag seines Peking-Aufenthalts predigt. Inhaltlich stelle es den Höhepunkt seines China-Besuches dar, flüstert Sicherheitsberater Sandy Berger im Schatten einer Kiefer. Denn um Freiheit gehe es Clinton und um Toleranz. Das habe der Präsident doch wohl deutlich gemacht.

Die Rede an der Uni ist der Höhepunkt der Reise

Nicht nur die Studenten, Hunderte von Millionen chinesischer Fernsehzuschauer sind Zeugen, als Clinton frühmorgens im Audimax der Peking-Universität seine Grundsatzrede hält: Das Niveau der Freiheit und der Menschenwürde in der ganzen Welt anzuheben, dafür mache er Politik. Und habe damit auch in Asien Erfolg: „Von Süd-Korea bis zu den Philippinen, von der Mongolei bis Thailand hat die Freiheit Asiens Küsten erreicht“, redet sich Clinton frei. Doch an dieser Stelle bekommt er keinen Extra-Applaus.

Statt dessen erreichen ihn bittere, aggressive Fragen. Wie es denn um die amerikanischen Waffenverkäufe nach Taiwan stehe? Warum denn die Amerikaner so wenig über China wüßten? Was er denn denken würde, wenn sie, die Studenten, heute genauso gegen ihn demonstrieren würden wie die Havard-Studenten vor einem halben Jahr beim Besuch des chinesischen Präsidenten Jiang Zemin? Zum Ende der Fragestunde, in der sich der Antwortgeber lieber auf die Seite herbeiphantasierter Demonstranten schlägt, als seine Ideale zu verraten, stutzt Clinton. Dann meint er es noch einmal ernst: „Eure Fragen waren viel wichtiger als meine Rede, denn ich lerne nie dazu, wenn ich rede, sondern nur, wenn ich zuhöre.“ Was aber hat der Präsident gelernt?

Wenige Stunden später erläutert US-Vizeaußenminister Stanley Roth den Dialog mit der chinesischen Jugend: „Wir begegneten echter Freundschaft für die Vereinigten Staaten, vor allem draußen auf der Bühne, wo der Präsident enormen Applaus erhielt. Aber wir erhielten gleichzeitig auch einen Beweis für den wachsenden Nationalismus der jungen Generation, der sich in den Fragen zuvor widerspiegelte. Mit diesem nationalistischem Gesicht werden wir uns in Zukunft weiter auseinandersetzen müssen“, warnt Roth.

Menschenrechtsimport wird nicht gutgeheißen

Irgendein Journalist aus Washington stellt dem Asien-Experten Roth daraufhin eine logische Frage: „Interessieren sich die Pekinger Studenten etwa nicht mehr für Menschenrechte?“

Roth wehrt ab, doch der Eindruck läßt sich nicht ganz unterdrücken. Wissenschaft und Technik seien die wichtigen Dinge, die China von Amerika lerne, behauptet eine Studentin. Andere haben den Film „Titanic“ gesehen. Oder sie freuen sich tatsächlich noch über eine Coca-Cola. Aber den denkbaren Importartikel Menschenrechte aus Amerika, den will auch auf Nachfrage niemand gutheißen. Schließlich lebe man in unterschiedlichen Systemen und Kulturen. „Wir sind doch schon frei. Wir können doch unsere Meinung sagen. Das versteht Clinton nicht“, erregt sich ein Mädchen.

Vernunftehe USA/China wird für gut befunden

Eigentlich kann ein solch unpolitisches Publikum den Regierungen nur recht sein. Es stellt sie nicht vor weitere Fragen. Und es findet die Vernunftehe zwischen Amerika und China ausnahmslos gut. Besonders wenn davon die Rede ist, noch mehr Studenten auszutauschen. Oder wenn wie geplant neue Stipendien vergeben werden. Aber ist das alles wirklich wichtiger als die Frage, ob der chinesische Präsident eines Tages auch vom Volk gewählt werden könnte? Die Studentinnen lachen und verdrehen die Köpfe. Sie als normale Menschen könnten diese Sache eben nicht beurteilen. Manchmal dünkt sich die Pekinger Uni-Elite noch genauso dumm wie das geschmähte Bauernvolk.

Dennoch wird Clinton am Montag mehr erreicht haben, als er zu spüren bekam. Als der neu ins Amt gewählte Premierminister Zhu Rongji im März erstmals eine direkt im Fernsehen übertragene Pressekonferenz gab, sprach anschließend das ganze Land darüber. Seit gestern aber steht es nun jedem Chinesen frei, ein neues politisches Thema mit seinen Nachbarn anzusprechen: Die Freiheit à la Clinton. Eine Milliarde Menschen können die Botschaft nicht überhört haben.