Mon Dieu Mondial: Wer jetzt Klinsmann ist, wird es lange bleiben
■ In der Frage Abschlußarbeiter gegen Künstler steckt ein metaphysischer Disput
Auf der Bild-Zeitung, die ich im Zuge meiner Fußballweltmeisterschafts-Recherchen vorgestern kaufte, klebte ein bißchen Blut. Ich meine echtes Blut, keine Metapher, auch wenn daneben stand: „Hossa Berti!“, „Heute wollen wir eine Fiesta Mexicana“ und man dies durchaus als menschenverachtende Drohung lesen konnte, wenn man entsprechend aufgelegt war. Da fiel mir Susanne Parsons ein, eine Mitschülerin der dritten oder vierten Klasse, der ich mal einen Zettel zugespielt hatte, auf dem stand: „Susanne Parsons ist doof und zeugungsunfähig“, und die mir daraufhin nicht etwa eine gegongt, sondern in mein Poesiealbum geschrieben hatte: „Die Jungen bewerfen die Frösche mit Steinen – aus Spaß, aber die Frösche sterben – im Ernst.“ Das gab zu denken.
Um einzusehen, daß Susanne Parsons schmerzlich recht hatte, muß man gar nicht erst wissen, daß ein bulgarischer Herr Dianescu kürzlich seinen Esel erschossen hat, weil der „zufällig“ auch Stoitschkow hieß wie der glücklose Nationalspieler, oder daß ein Erzürnter in der bangladeschischen Provinz zum Knüppel gegriffen und auf das E-Werk um die Ecke eingeschlagen hat, weil es während der WM-Übertragung einen Stromausfall gab.
Ich will darauf hinaus, daß es keinen Sinn hat, Sport und Philosophie trennen zu wollen, wie es allenthalben im Zuge der neuen Intellektuellenschelte von Intellektuellen gefordert wird, denn beide sind längst hoffnungslos ineinander verquickt! Von wegen, der Fußball muß ins Tor und damit zopp. Schon in der Frage „Künstler“ gegen „Abschlußarbeiter“ – oder Brasilianer, Nigerianer und Franzosen gegen Italiener, Deutsche und Argentinier – steckt ein metaphysischer Disput, der sich gewaschen hat, möchte ich sagen. Hinter dem scheinbar technischen Wandel von den „langen Pässen“ der Fußball-Boheme von damals und der Minimal art des zentimetergenauen Zuspiels unserer armen Tage klafft ein ontologischer Riß, der fast so tief ist wie der zwischen der berühmten „langen Einstellung“ im Experimentalfilm der siebziger Jahre und dem Stakkato-Schnitt des MTV-Videos von heute.
Der risikoscheue Oliver Bierhoff ist, das liegt auf der Hand, der Odysseus aus der „Dialektik der Aufklärung“, der sich alle Impulse versagt, gegen den Gesang der Sirenen sich die Ohren verstopft, um nicht, wie so mancher vor ihm, in ein Schwein verwandelt zu werden, der Natur ausgeliefert, zu deren Beherrschung er sich aufgemacht hatte. Ich sage mit Friedrich Schiller: Es ist ein tintenklecksendes Katastrophenjahrhundert! Es ist zuwenig Testosteron im Spiel! Wer jetzt keinen Maradona hat, der baut sich keinen mehr. Wer jetzt ein Klinsmann ist, wird es lange bleiben. Genau kalkulierte Seilschaften triumphieren über Einzel-Hasardeure; Italiens Christian Vieri spielt „Nicht ohne meinen Di Biagio“. Die rumänische Mannschaft mit ihrem blondierten Replikanten- Look bringt es doch an den Tag: Niemand will mehr der Bluthund sein. Alle sehen aus wie Rutger Hauer im „Blade Runner“, und wohin das führt, haben wir ja gesehen.
Camille Paglia, Amerikas Postfeministin mit Faible fürs Grobe, hat aus Wut über die Waschlappigkeit der gegenwärtigen Spielertypen (“zu apollinisch“) ihre Eintrittskarte zurückgegeben. Um mit gutem Beispiel voranzugehen und wenigstens zu Haus der kompletten Verweichlichung entgegenzutreten, hat die Gruppe „Mütter solidarisieren sich mit Olaf Thon“ aus Berlin-Schmargendorf statt fernzusehen Fallrückzieher geübt, aber mit Medizinbällen. Das war dionysisch. Mariam Lau
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