: Ganz Holland strahlt in Orange
In den Niederlanden bangt man vor dem heutigen Halbfinale gegen Brasilien, ob das eigene Team erfolgreich sein wird oder doch nur wieder die schöneren Brasilianer abgibt ■ Von Daniel Bax
Haarlem (taz) – „Holland weiter, Deutschland draußen – was für ein Tag!“ Atemlos verabschiedet sich der Kommentator des niederländischen Fernsehens nach der Niederlage der deutschen Mannschaft. Tatsächlich müssen sich viele Holländer gefühlt haben, als sei Weihnachten und Neujahr zugleich angebrochen. Doch die Mehrheit nahm vom Ausscheiden des Erzrivalen zwar gewohnt schadenfroh, aber nur beiläufig Notiz. An dem meisten öffentlichen Plätzen zumindest, an denen gewöhnlich die WM-Spiele verfolgt wurden, in Cafés und Kneipen, war man damit beschäftigt, den glanzvollen Viertelfinalauftritt des eigenen Teams zu feiern.
Der Sieg, für Holländer eigentlich „typisch deutsch“, weil dramatisch und in letzter Minute erkämpft, wurde immer noch bejubelt, als die echte deutsche Mannschaft längst gesenkten Hauptes das Spielfeld verlassen hatte. Insgesamt 10,5 Millionen Zuschauer, also drei Viertel aller Niederländer, haben das Spiel gegen Argentinien verfolgt – ein TV-Rekord, der südamerikanischen Einschaltquoten ähnelt.
Ein Beleg mehr für die These, die Holländer seien die „Brasilianer Europas“. Bisher tröstete man sich im Nachbarland mit dieser Gleichung gern über die Tatsache hinweg, daß Holland sooft, trotz schönen Offensivspiels, der große WM-Erfolg versagt blieb. Inzwischen taugt die These jedoch sogar für ungekannte Überlegenheitsgefühle. Der holländische Coach Guus Hiddink jedenfalls ließ die holländische Presse vor dem heutigen Halbfinale (21 Uhr, ZDF) gegen den viermaligen Weltmeister wissen, daß die Brasilianer längst keine Brasilianer mehr sind: „Brasilien hat seine Philosophie verändert“, befand er gegenüber dem Volkskrant, „es ist leider nicht mehr feurig und swingend.“ Dagegen Holland: „Unsere Spielweise ist gewagter und abenteuerlicher als die der Brasilianer.“ Die würden ergebnisorientiert und risikoscheu spielen. Sollte Holland je so auftreten, so Hiddink, dann dürfte man ihn erschießen.
Mit dem Sieg über Argentinien – in den Medien schon im Vorfeld gehandelt als „Rache für 1978“ – hat die Fußballeuphorie in Holland ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Ein bißchen ungewohnt ist die Rolle des jubelnden Winners allerdings noch, entsprechend ungelenk fällt der ungehemmte Freudenausbruch meist noch aus. Autokorsos, Fahnenmeere, Hupkonzerte bis in die Nacht? Das nun doch nicht. Ein wenig Shampoo in den Brunnen auf dem Marktplatz, wo sich die Fans, von allen Seiten zusammenlaufend, spontan versammeln, ein paar Leuchtkugeln in die Luft, so sieht ein Fußballfest in einer durchschnittlichen holländischen Kleinstadt wie Haarlem aus. Die demonstrative Ausgelassenheit wirkt bisweilen ein wenig aufgesetzt. Den Mangel an ausgefeilter Ekstasetechnik wird jedoch wettgemacht durch den exzessiven Einsatz der Farbe Orange, die das Bekenntnis zum Fußballteam demonstriert. So strahlt schon seit WM-Beginn fast ganz Holland in einheitlicher Leuchtfarbe. Zudem hat die niederländische Fanartikelindustrie einiges zu bieten: Holzschuh- und kronenförmige Plastikkopfbedeckungen gibt es in jedem Supermarkt; T-Shirts, Mützen und Brillen in Orange scheint ohnehin jeder zu besitzen. Erst ein Sieg über Brasilien aber würde dem allgegenwärtigen Oranje-Fieber den endgültigen Auftrieb geben. Ansonsten bliebe lediglich der Trost, wieder einmal das bessere Brasilien gewesen zu sein.
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