piwik no script img

Die Stimme sah Geschichte

Wird Brasilien Weltmeister? Einfache Frage. Schwerer wiegt: War das Halbfinale zwischen Brasilien und Holland womöglich das größte Spiel von allen?  ■ Von Peter Unfried

Marseille (taz) – Es passierte, während Zagallo in der Mixed Zone sprach, daß das mobile Telefon mächtig klingelte, ihm dann aber zunächst nur ein einziges Wort zu entnehmen war. Das Wort lautete: „Und?“ Es wurde aber so bedeutungsschwer geraunt, daß sofort klar war, es würde keine auch nur einigermaßen befriedigende Antwort geben.

Nach einigen Zehntelsekunden Leere im Kopf produzierte der eingeübte Verzögerungsreflex die Gegenfrage: „Was, und?“ Das war natürlich eine in jeder Beziehung jämmerliche Reaktion. Man hatte damit der Stimme auch ganz offensichtlich Furchtbares angetan. Erst nach einigen Minuten schmerzhafter Verblüffung insistierte die Stimme. Sie fragte: „War das nicht das größte Spiel aller Zeiten?“

Möglich wäre gewesen, die Verbindung mit einem freundlichen, aber entschiedenen „Völlig falsch verbunden“ zu unterbrechen. Damit würde man freilich vernachlässigen, daß die Stimme erstens in der Redaktionsleitung des weltbesten Fußballmagazins wirkt und das zweitens nicht zufällig. Die Stimme war aber in Paris, nicht in Marseille. Die Stimme hatte nur ferngesehen, sie wollte Aufklärung. Du mußt das doch wissen.

Also gut.

Das 1:1 zwischen Brasilien und Holland (4:2 im Elfmeterschießen) ist ein Spiel, das bleiben soll und muß. Es wurde gespielt in einer wunderbaren Nacht an einem angemessenen Ort in einer angemessen ge- wie entspannten Atmosphäre. Es gibt keinen Grund, zu bereuen, daß man dort war. Es gibt gute Gründe, darüber froh zu sein.

Die Stimme vermutete ja, das Spiel sei „perfekt“ gewesen. Dagegen ließe sich einiges sagen, zum Beispiel, daß Zagallo die Brasilianer 90 Minuten sehr behutsam reagieren ließ, fast als sei man ein Außenseiter. Daß Denilsons Einwechslung Kreativität, aber auch das 1:0 führende Team etwas aus der perfekten Balance brachte. Daß die offenkundige Kopfballschwäche der Innenverteidigung ihren Ausdruck doch noch in Baianos Gesicht bei Gegenspieler Kluiverts Ausgleich fand.

Vielleicht ist es aber angemessener, davon zu reden, daß es deshalb passierte, weil auf der anderen Seite Qualität dagegenstand. Davon zu reden, was das Spiel alles Großartiges enthielt, obwohl (und weil) die Brasilianer spielen wie sie spielen. Davon, wie die Niederländer selbstbewußt genug waren, in der regulären Spielzeit den Rhythmus des Spiels bestimmen zu wollen, aber nicht dumm genug, es um jeden Preis zu versuchen. Wie sie ihre Kombinationen anlegten, um Kluivert in Position zu bringen, aber häufig nicht zu Ende spielen konnten, weil die Brasilianer ihnen die Räume nicht anboten oder mit Ausnahme von Ze Carlos individuell zu gut waren, sich ausspielen zu lassen. Es war auf der anderen Seite so, daß die Leute aufsprangen vor Aufregung, wenn Ronaldo nur an der Mittellinie an den Ball kam, beschleunigte und ein bißchen Raum sich auftat. Auch die Kreativqualitäten der Linksfüßer Roberto Carlos, Rivaldo und Denilson sind für sich beeindruckend; wenn aber Zagallo auch noch will, daß sie sich addieren, wie in der Verlängerung geschehen, wird es für das organisierteste System problematisch.

Selbst der stolze Rivaldo, vermutlich der schwächste Defensivspieler im Team, knechtete mindestens 90 Minuten im Dienste von Zagallos Defensive. Dennoch war er stark genug, zweimal jenen berüchtigten Rivaldo-Ronaldo-Paß zu spielen, der entscheidet: beim 1:0. Und in jener Szene, als Davids den enteilenden Ronaldo noch so raffiniert bedrängen konnte, daß weder 2:0 fiel noch Elfmeter gepfiffen werden mußte.

Stundenlang muß man noch erzählen. Das tut man sonst nie, ist aber genau der Punkt. Von Dunga zum Beispiel, dem Organisator, der keine Fehlpässe spielt und den man nie sprinten sieht. Es lohnt sich dennoch, immer ein Auge auf ihn haben. Dort, wo er schon ist, verliert Sekunden später garantiert der Gegner den Ball. Man muß reden von Davids, der viele Bälle verlor – und noch mehr gewann.

Man muß reden von Frank de Boer, dem Abwehrorganisator. „Das war mein bestes Länderspiel überhaupt“, hat de Boer zu Recht gesagt, „trotzdem konnte Ronaldo jederzeit ein Tor schießen.“ Es gibt keinen besseren Satz für dieses WM-Halbfinale von Marseille. Das Spiel der Niederländer war nicht perfekt, das der Brasilianer auch nicht, zusammen war es ein Spiel mit wunderbaren Momenten, Tricks und Kombinationen in unglaublicher Geschwindigkeit.

Es macht übrigens überhaupt keinen Sinn, untersuchen zu wollen, warum es gerecht sein könnte, daß die Brasilianer nun ihren Titel verteidigen dürfen. Es gibt keinen Grund. Was man nach Marseille begründen kann, ist allenfalls des Schicksals überaus angemessene Behandlung der DFB-Fußballer.

Gestern ein vorsichtiger Gegenanruf. Würde die Stimme relativieren – oder ihren Anspruch aufrecht erhalten? Die Stimme relativierte gar nichts. Die Stimme war immer noch aufgeregt. Sie krähte: „Wo haben wir denn Dinge gesehen, die besser waren?“ Okay. Nirgends. Und zu keiner Zeit.

Niederlande: van der Sar – Reiziger (56. Winter), Stam, Frank de Boer, Cocu – Ronald de Boer, Jonk (111. Seedorf), Davids, Zenden (75. van Hooijdonk) – Bergkamp, Kluivert

Zuschauer: 60.000 (ausverkauft)

Tore: 1:0 Ronaldo (46.), 1:1 Kluivert (87.)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen