: „Erst hat man Angst, dann Angst vor der Angst“
■ Der Pankower Neurologe und Psychotherapeut Alexander Schulze über Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Angststörungen. Viele Patienten geraten in eine Abwärtsspirale
taz: Herr Schulze, wie wird man angstkrank?
Alexander Schulze: Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Angststörungen. Es gibt die Phobien, also Ängste, irgendwohin zu gehen oder Ängste vor Objekten; es gibt Panikstörungen mit spontan auftretenden, anfallartigen Ängsten; es gibt generalisierte Angststörungen bei sorgenvollen Menschen, die vor vielen Dingen im Leben Ängste haben, und es gibt soziale Phobien, wo die Befürchtung einer Bewertung durch andere Menschen eine Rolle spielt.
Was macht anfällig für diese krankhaften Ängste?
Anfällig macht eine bestimmte genetische Veranlagung. Hinzu kommen Lebenseinflüsse, die ängstlich machen. Man kann das zum Beispiel von den Eltern übernehmen oder so erzogen werden. Außerdem kann man Angst lernen. Angstkranke machen eine Abwärtsspirale durch: Erst hat man Angst, dann Angst vor der Angst, dann vermeidet man etwas, das macht noch größere Angst.
Spielen andere Verunsicherungen wie Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit eine Rolle?
Jemand, der zu Angststörungen neigt, für den ist Arbeit wie eine wirksame Behandlung. Solange er zur Arbeit geht, hält er die Störung in Grenzen. Wenn er plötzlich auf sich zurückgeworfen ist und durch den Verlust der Arbeit an Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein verliert, dann kann das, was bereitliegt, zum Ausbruch kommen. Eine Ursache ist Arbeitslosigkeit aber nicht.
Viele ihrer Kollegen berichten, daß die Anzahl der Erkrankungen im Westen stagniert, im Osten aber ansteigt. Hat das etwas mit der Verunsicherung durch den Zusammenbruch der DDR zu tun?
Das kann ich nicht bestätigen. Ich glaube nicht, daß die Angststörungen zugenommen haben, sondern, daß man stärker auf sie aufmerksam geworden ist. Vermutlich gab es Anfang des Jahrhunderts genauso viele Angststörungen wie heute, aber sie wurden damals noch nicht als Krankheit wahrgenommen. Ich war auch schon zu Ostzeiten Psychotherapeut und habe viele Angstpatienten behandelt. Ich glaube nicht, daß Angstkrankheiten durch gesellschaftliche Veränderungen verursacht werden. Sie bringen das Faß höchstens zum Überlaufen.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Ich würde eine ausgewachsene Angststörung ganzheitlich behandeln, das heißt mit Psychotherapie plus medikamentöser Therapie. Es gibt inzwischen Antidepressiva, die wenig Nebenwirkungen haben und genau an der Stelle im Botenstoffwechsel im Gehirn ansetzen, den man für die Angst verantwortlich macht. Man kann im Grunde jede psychotherapeutische Methode anwenden, Verhaltenstherapie ist die nachgewiesen effizienteste. Es gibt aber auch Angststörungen, die sind so sehr mit einer konflikthaften Lebenssituation verquickt, daß man diese untersuchen muß. Dann kann man zum Beispiel analytisch arbeiten.
An der Verhaltenstherapie wird kritisiert, daß sie statt an den Ursachen am Symptom ansetzt.
Das halte ich für Uninn, auch wenn ich selbst eher analytisch orientiert bin. In vielen Fällen muß zuerst die Angst weg.
Welche Behandlungen zahlen die Krankenkassen?
Die Kassen zahlen für Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch fundierte Therapie etwa 70 bis 100 Stunden. Das ist auch völlig ausreichend. Interview: Sabine am Orde
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