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Jeder für sich und zwei Pfund Egomanisches

Die erste Person singular: Der „Hamburger Ziegel“ aus dem großen Literaturbetrieb unserer Stadt  ■ Von Ulrike Winkelmann

Der sechste Hamburger Ziegel ist kein Ziegel mehr, sondern ein Buch. Der Dölling und Galitz Verlag hat das Format der jüngsten Textsammlung von Autorinnen und Autoren aus dem HVV-Gesamtbereich geändert: von backsteinhaft-unpraktischer Gigantomanie zu gediegenem DIN A5. Tempel Tiere Sensationen verspricht der Titel dieses Jahres; Tiere gibt es verblüffend viele in Wort und Bild, Tempel sind schon rarer gesät, und nach Sensationen muß man sich auf den über 600 Seiten Poesie und Prosa, Zeichnungen und Photos schon ein wenig umschauen.

Vermutlich ist „ich“ das auffälligste, wenn schon nicht das meistgebrauchte Wort im aktuellen Ziegel, und es scheint auch dort durch, wo auf dem Papier die dritte Person Singular steht. Man redet von sich. „Egokondolenz“ heißt ein Gedicht von Arne Rautenberg, und dessen ersten fünf Zeilen lassen sich in ihrer Selbstgenügsamkeit und melancholischer Liebe zum Detail wie eine Aussage über viele andere Texte des Ziegels lesen: „sieh fenster und alles / was du siehst ist schwacher ab-glanz / von dir denn draußen / ist es dunkel und trommelt / jeder regentropfen ist welt“.

Anstrengend wird diese teils ironische, teils elegische Eigenliebe, wo sie sich etwa bei Joachim Bitter, wie Rautenberg Jahrgang 1967, mit hanseatischem Willen zur Metropole verbindet: „Hamburg, Stadt der Werber und der Berber“ ist nur eine der Stilblüten aus seiner Fragmentsammlung Der Kurier bin ich doch hier.

Merkwürdig deplaziert steht zwischen den vielen kleinen Protokollen aus der Szene und den schnellen Texten der jungen Slam-Poeten das Kapitel „Generationenvertrag“, in dem ältere Autoren und Autorinnen zu Wort kommen und der Horizont sich plötzlich in alle Richtungen weitet. Hier steht auch die Collage des Ziegel-Abo-Autoren Michael Batz. Batz hat Aussagen aus den Vernehmungsprotokollen zusammengeschnitten, die nach Berichten des Hamburger Polizeibataillons 101 angefertigt wurden. Das Bataillon hatte 1942 und '43 an Deportation und Ermordung von Juden teilgenommen.

Daß „Welthaltigkeit“, die in der Neuauflage der Realismusdebatte an der jüngeren Literatur so oft vermißt wird, keine Frage des beschriebenen Ortes ist, beweisen die Gedichte von Joachim Matschoss. In Englisch geschrieben sollen sie zeigen, daß sie in Australien verfaßt wurden – und sind dabei doch so banal.

Wie Banalität vor Ort perfektioniert wird, zeigt dagegen der bereits preisverwöhnte literarische Hoffnungsträger Stephan Beuse – noch so ein 67er: Aus schlichtem „Warten auf die Löwen“ im Zoo machte er die hübscheste Miniatur des Ziegels.

Jürgen Abel, Robert Galitz, Wolfgang Schömel (Hg.): Hamburger Ziegel. Jahrbuch für Literatur VI, Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1998, 630 Seiten, 20 Mark.

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