: Ein Wunschkind aus der Retorte
Die Reproduktionsmedizin feiert Geburtstag. Heute vor zwanzig Jahren wurde das erste Retortenbaby geboren. Weltweit wurden inzwischen über 300.000 Kinder mit Hilfe der künstlichen Befruchtung gezeugt. Der Wunsch nach einem eigenen Kind scheint keine Grenzen zu kennen ■ Von Wolfgang Löhr
Louise Brown wird heute zwanzig Jahre alt. Als das „Jahrhundert-Mädchen“ am 25. Juli 1978 in der britischen Kleinstadt Oldham per Kaiserschnitt auf die Welt kam, wurde ein medizinisches „Wunder“ gefeiert. Louise Brown war das erste Retortenbaby. Ihre Geburt revolutionierte die Reproduktionsmedizin. Heute scheinen die im Reagenzglas gezeugten Kinder schon eine Selbstverständlichkeit zu sein. Etwa 300.000 Kinder sind weltweit seither im Reagenzglas gezeugt worden, darunter 20.000 in der Bundesrepublik. Hierzulande wird an rund neunzig Reproduktionszentren und –kliniken die „In-vitro-Fertilisation“ (IVF) angeboten.
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sind bei uns „zwei Millionen Paare ungewollt kinderlos“. Noch aber gebe es viele Vorbehalte gegenüber der künstlichen Befruchtung, sagt Michael Thaele vom Bundesverband Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands. Nur 100.000 deutsche Ehepaare suchten mit dieser Methode jährlich ihren Traum vom eigenen Kind wahr zu machen. Lediglich 5.400 Kinder, sagt Thaele, kämen dann tatsächlich zur Welt.
Neun Jahre lang hatten die Eltern von Louise Brown vergeblich auf ein Kind gehofft. Doch erst der Arzt Patrick Steptoe und der Biologe Robert Edward konnten ihnen helfen. Die Wissenschaftler hatten ihre neue Methode zuvor schon bei über sechzig Frauen ausprobiert, allerdings ohne Erfolg. Bei Lesley Brown, die aufgrund verklebter Eierstöcke kinderlos blieb, klappte die künstliche Befruchtung gleich beim ersten Versuch. In einem Laborschälchen vereinigten die beiden Forscher eine Eizelle mit einem Spermium und übertrugen den entstandenen Embryo in die Gebärmutter von Lesley Brown. Neun Monate später war die medizinische Sensation perfekt.
„Die Behandlung unfruchtbarer Paare ist in den vergangenen Jahren sehr viel unkomplizierter geworden“, berichtet Professor Klaus Diedrich, Chef der Universitätsfrauenklinik in Lübeck. Die Gewinnung von Eizellen bei der Frau geschieht zum Beispiel nicht mehr über eine aufwendige Bauchspiegelung, sondern einfach über die Scheide. Zudem stehen den Reproduktionsmedizinern mittlerweile eine Reihe verschiedener Hormone zur Verfügung, mit denen eine Superovulation ausgelöst werden kann. Bis zu zwanzig Eizellen können so auf einmal gewonnen werden. Die Frauen müssen nicht mehr für jeden Embryonentransfer die zum Teil körperlich stark belastende Hormonbehandlungen über sich ergehen lassen. Überzählige Eizellen können so für nachfolgende Versuche aufbewahrt werden.
Zwar ist nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz (ESchG) das Einfrieren von Embryonen verboten. Doch die Reproduktionsmediziner können sich eine Lücke im Gesetz zunutze machen: Das ESchG greift erst, wenn die beiden Kerne der befruchteten entwicklungsfähigen Eizelle miteinander verschmolzen sind. Die Zeit zwischen Befruchtung der Eizelle und der Kernverschmelzung unterliegt dagegen keinen Vorschriften. Diesen ungeregelten Grenzbereich nutzen die Reproduktionsmediziner zur Vorratshaltung. Im Pronukleusstadium dürfen die befruchteten Eizellen einer „Kryokonservierung“, dem Tiefgefrieren, zugeführt werden.
In dieser Entwicklungsphase darf auch in deutschen Forschungsinstituten mit den befruchteten Eizellen experimentiert werden. Es muß nur sichergestellt sein, daß es nicht zu einer Kernverschmelzung kommt. Ansonsten ist die sogenannte „verbrauchende Embryonenforschung“ hierzulande generell verboten. In anderen Ländern wie zum Beispiel in Großbritannien sind die Vorschriften nicht so streng. Dort darf noch bis zu vierzehn Tage nach der Kernverschmelzung geforscht werden. Obwohl die Embryonen, die in der Forschung eingesetzt werden, in Großbritannien von der Kontrollbehörde „Human Fertilisation and Embryology Authority“ seit 1991 statistisch erfaßt werden, wurden vor wenigen Wochen das erste Mal überhaupt Zahlen bekanntgegeben. Von den über 500.000 im Reagenzglas gezeugten Embryonen wurden weniger als die Hälfte zur Behandlung von unfruchtbaren Paaren eingesetzt. Bis März 1996 kamen so rund 20.000 Kinder auf die Welt. 300.000 Embryonen verbrauchten die Wissenschaftler in den Laboren.
Seit der Einführung der IVF werden zunehmend Mehrlinge geboren. Nach den vor kurzem veröffentlichten Zahlen des National Center for Health Statistic in den USA kamen 1996 fünfmal mehr Zwillinge zur Welt als vor 24 Jahren. Noch stärker fiel die Zunahme von Drillings- oder Vierlingsgeburten aus. Damit einhergehend weist die US-Statistik eine steigende Rate von unterernährten Kinder aus. Als Ursache haben die Statistiker unter anderem die Übertragung von mehreren Embryonen bei der IVF ausgemacht. Die Mediziner hoffen, so die Chance zu verbessern, daß wenigstens einer der transferierten Embryonen angenommen wird. Entwickeln sich zu viele, müssen die Mediziner notfalls zur Kochsalzspritze greifen – mit einer konzentrierten Salzlösung werden die überzähligen Embryonen durch die Bauchdecke hindurch totgespritzt. In Deutschland ist aus diesem Grund während eines Behandlungszyklus auch nur die Übertragung von maximal drei Embryonen erlaubt.
War die IVF in den achtziger Jahren noch heftig umstritten, gehört sie mittlerweile zum Alltag. Schlagzeilen erzeugen nur noch spektakuläre Fälle. Etwa die südafrikanische Frau, die ihren eigenen Enkel zur Welt brachte. Oder der US-Arzt, der bei zahlreichen IVF-Behandlungen selbst als heimlicher Samenspender auftrat. In Großbritannien sorgten vor kurzem erst zwei lesbische Frauen für Aufregung. Sie hatten sich aus dem Ausland eingefrorenen Samen zuschicken lassen. Der Preis: rund 840 Mark. Der Kontakt zu dem Samenspender kam über eine Internetfirma mit dem vielsagenden Namen NewLife zustande.
Der Traum von einem gemeinsamen Kind, ausgestattet mit den eigenen Genen, war für ein schwules Paar aus dem kalifornischen Santa Monica Anlaß, eine IVF- Behandlung durchführen zu lassen. Einer der beiden Partner überredete seine Schwester, ein Ei zur Verfügung zu stellen. Mit dem Samen des anderen Partners ließen sie eine künstliche Befruchtung durchführen. Die Leihmutterschaft übernahm eine Nachbarin. Zwei Jahre ist Malina jetzt alt. Beide Männer bezeichnen sich als Vater, schließlich sei das Kind ja mit beiden auch genetisch verwandt. Im September erwartet das Paar sein zweites Kind. Diesmal haben sie die Rollen vertauscht. In zwanzig Jahren, so hoffen die beiden, „wird es normal sein, daß zwei Frauen oder zwei Männer gemeinsame Kinder haben werden“.
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