„Sauberkeit ist unser Markenzeichen“

Am Wochenende wollen 60.000 Zeugen Jehovas zum Beten, Taufen und zum Bibellesen im Olympiastadion zusammenkommen. Die fundamentalistischen Christen kämpfen um Anerkennung im Westen und um Mission im Osten  ■ Von Bernhard Pötter

Die Verwaltung des Olympiastadions freut sich auf die Zeugen Jehovas. Zwei Wochen vor dem Start der Fußballbundesliga bekommt die marode Arena einen Großputz umsonst. Denn die Tausende von Gläubigen, die am Wochenende im weiten Rund des Stadions beten, singen und religiösen Vorträgen lauschen werden, legen vor allem Wert auf eines: Sauberkeit in jeder Hinsicht.

Anders als etwa bei der Love Parade wird es eine Diskussion um das Müllproblem der Großveranstaltung nicht geben. Offensiv verkündet Projektleiter Klaus Ewald: „Sauberkeit steht bei unseren Kongressen ganz oben an. Sie ist sozusagen unser Markenzeichen oder unsere Visitenkarte.“ Schon vor dem Kongreß, der morgen beginnt, wollten die Gläubigen das Olympiastadion Bankreihe für Bankreihe nach Müll durchsuchen und von Kaugummis auf den Sitzen befreien.

Schließlich wird für 60.000 Zeugen Jehovas das morsche Stadion mit Nazi-Architektur für drei Tage zum Gotteshaus. Die Zeugen treffen sich zu einem ihrer unregelmäßig stattfindenden internationalen Kongresse. Zeitgleich in Dortmund, München, Nürnberg, Stuttgart und Berlin sollen „Ansprachen, Interviews und Podiumsgespräche zum besseren Verständnis der Bibel beitragen“, heißt es. Die Gläubigen beweisen Sitzfleisch: Jeweils von 9.30 bis 17 Uhr mit 90 Minuten Halbzeitpause am Mittag wird an den drei Tagen gesungen, gebetet, öffentlich getauft oder über Themen wie „Der einzige Weg zu ewigem Leben“, „Uns von der Welt ohne Flecken bewahren“ oder „Die Herausforderung, Menschen zu erreichen“ doziert. Die Vorträge werden im Olympiastadion gleichzeitig in Deutsch, Russisch und Polnisch angeboten, denn die Zeugen sehen die größte Herausforderung derzeit darin, die Menschen im ehemaligen Ostblock zu erreichen: Immerhin kommen 15.000 Teilnehmer aus dem Ausland, vor allem aus Polen, Rußland, der Ukraine und dem Baltikum. „Die Mitgliederzahl der Zeugen Jehovas im Westen scheint zu stagnieren, sie wollen wie andere Religionsgemeinschaften nach Osten expandieren“, sagt Manfred Becker von der Kulturverwaltung, der sich mit der Gemeinschaft befaßt hat.

Ähnlich wie die Macher der Love Parade haben die Zeugen Jehovas gelernt, wie man in Berlin Massenveranstaltungen populär macht: Der Kongreß bringe 22.000 Übernachtungsgäste und damit 12 Millionen Mark Einnahmen für Berlin und Brandenburg, heißt es. Ansonsten legen die Zeugen Jehovas, die in Berlin nach eigenen Angaben etwa 6.700 Mitglieder haben und sich in 20 „Königreichsälen“ zum Gottesdienst treffen, eher Wert darauf, sich als moralische und spirituelle Saubermänner „vor der Welt ohne Flecken zu bewahren“. Seit 100 Jahren verbreiten die „Bibelforscher“, wie sie damals hießen, ihre Lehre von einem Leben, das sich eng und fundamentalistisch an den Buchstaben der Bibel orientiert. Anders als etwa die großen christlichen Kirchen lesen sie die Bibel nicht als zeitgenössische, 2.000jährige Schrift, sondern als einzige Wahrheit mit direkten Handlungsanleitungen. Diese Haltung hat nicht nur zu schweren theologischen Konflikten mit den Volkskirchen geführt, sondern auch zur Verfolgung durch die Nazis: Weil sie Kriegsdienst und Hitlergruß konsequent als „Götzendienst“ verweigerten, wurde ihre Organisation verboten, viele Mitglieder wurden von den Nazis verschleppt und gefoltert. Allein 41 Berliner Gläubige wurden ermordet. In der DDR wurden sie 1950 erneut verboten. Als Begründung dazu hieß es im Neuen Deutschland, sie seien eine „Spionage- und Diversantenorganisation, die unter dem Deckmantel religiöser Schrullen ihre verderbliche Arbeit gegen den Fortschritt führt“.

Doch auch dem demokratischen Staat bringen die Zeugen, die mit dem Wachtturm in der Hand auf den Straßen missionieren, Mißtrauen entgegen. Ihr Verständnis von guten Bürgern ist das Bild von gesetzestreuen Menschen, die durch „Bibelkurse nachweislich zu wertvolleren Gliedern des Gesellschaft“ werden, wie es in Presseinformationen heißt.

Ein Einmischen in Staat und Gesellschaft lehnen die auf den Fotos ihrer Broschüren immer sauber frisierten und selig lächelnden Gläubigen allerdings strikt ab. Ihre Weigerung, am politischen Leben wie etwa an Wahlen teilzunehmen, verhinderte im letzten Jahr in Berlin ihre Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Das Bundesverwaltungsgericht befand, das Land Berlin dürfe deswegen den Zeugen Jehovas diese Privilegierung verweigern.

Dieser Rückschlag traf die Glaubensgemeinschaft hart, die aus ihrer Zentrale in New York weltweit knapp 6 Millionen Mitglieder (Deutschland: 170.000) führt. Denn die deutschen Gläubigen verpassen dadurch nicht nur die Freistellung von Erbschaft- und Grunderwerbsteuer oder das Recht, Religionsunterricht an Schulen oder in Gefängnissen zu erteilen. Vor allem ist den Zeugen Jehovas daran gelegen, ihr Image zu verändern: Nicht mehr als spinnerte Sekte, sondern als respektierte Kirche wollen sie auftreten. Immer noch glauben sie an das biblische „Harmageddon“, das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt und den Endkampf zwischen Gut und Böse. Doch da die prognostizierten Weltuntergänge in den Jahren 1914, 1925 und 1975 auf sich warten ließen, sprechen sie heute nur noch von der „Zeit des Endes“, in dem sich beweisen müsse, ob die Menschen errettet oder verdammt würden.

Anders als auf Kirchen- oder Katholikentagen wird am Wochenende im Olympiastadion nicht gestritten oder an der reinen Lehre Jehovas gezweifelt. Die Bibel wird wörtlich gelesen, ihr Weg ist für die Zeugen der „einzige Weg zu ewigem Leben“: Diese ideologische „Sauberkeit“ in der Argumentation, der Druck auf Mitglieder und ihre Familien zum konformen Verhalten und die Drohung mit der „totalen sozialen Isolation“ beim Ausstieg aus der Gemeinschaft sind Gründe dafür, daß ehemalige Mitglieder und etwa der Verfassungsrechtler Christoph Link die Gemeinschaft als „totalitär“ einstufen.

Link vertrat das Land Berlin im Streit vor dem Bundesverwaltungsgericht. Mit dieser Ansicht holte sich das Land allerdings bei den obersten deutschen Verwaltungsrichtern eine Niederlage. Aussteigerberichte, so die Richter, seien keine fundierten und objektiven Zeugnisse für ein Urteil über ein „totalitäres System“ – ähnliche Berichte gebe es von Kritikern schließlich auch in großer Anzahl über die evangelische und die katholische Kirche.