: Hein Mück trifft Stockhausen
■ „Das 7. Orchester zur See“ warf für zwei Tage Anker im Jungen Theater und begeisterte auch überzeugte Landratten durch kafkaeske Shantys
Als waschechter hanseatischer Eingeborener wurde man in den 50er und 60er Jahren von seinem Vater am Sonntag morgen nicht in die Kirche, sondern zum Hafenkonzert gezerrt. Die zackige Blasmusik sowie die elend langweiligen Interviews über Schiffsladungen oder die Hebeleistung eines neuen Krans sorgten für ein lebenslang anhaltendes Trauma. Seemannsgarn wurde dort leider nie gesponnen, und der Höhepunkt an Humor und musikalischer Originalität war Richard Germer mit seiner Laute.
Die viermännige Besatzung des „7. Orchesters“ muß ähnlich erschütternde Kindheitserlebnisse durchlitten haben, denn seit Jahren schon versucht sie in ihren Programmen die Art von Hafenkonzert zu kreieren, die uns Kinder damals begeistert, und auf einen psychisch gesunderen Weg gebracht hätte.
Bei seinem Auftritt am Donnerstag im Jungen Theater wird der berühmt berüchtigte Shanty von „Hein Mück aus Bremerhaven“ keck in „Alle Vöglein sind schon da“ umgebogen und die Wimmerarie aus „Evita“ genauso frech und holperig interpretiert wie ein Stück von Stockhausen oder der Soul-Jazz-Hit „On Broadway“. Hier bestätigt sich wieder die alte Entertainer-Weisheit, daß man schon verteufelt gut sein muß, um richtig schön schlecht zu musizieren. Jan Fritsch an Saxophon und trötender Trompete, Holger Kirleis am Piano, Heino Sellhorn am Baß und Bengt Kiene als singende Primadonna lassen keinen Musikstil ungeschoren, und wenn sie tatsächlich mal aus Versehen ein paar Takte lang richtig schöne Musik machen, dann schreien sie danach laut „fertig“, und alles ist wieder so albern, wie es sich gehört.
Dazu erzählen die vier absurde Geschichten von ihren Fahrten über die sieben Meere. Höchstwahrscheinlich sind sie nie aus der norddeutschen Tiefebene herausgekommen, aber sie fabulieren dreist über ihre „Teatime mit der Queen im Buckingham Palace“, über „Sex in der Wüste“ oder ihren Spaziergang im Eurotunnel, bei dem sie direkt in einem australischen Kohlebergwerk landeten. Dazu paßt dann wieder der schwarze Pop-Klassiker „Working in the Coal Mine“. Nachdem sie den musikalisch dahingemordet haben, geht es weiter auf den nächsten Erdteil und zum nächsten musikalischen Schiffbruch. So assoziieren die vier frei über alle logischen, musikalischen und geschmacklichen Grenzen hinweg und haben dabei einen Heidenspaß. Das erstaunlich zahlreiche Publikum lacht begeistert mit. Auch wenn die Show manchmal so schaukelt, daß einem seekrank werden kann.
Heino Sellhorn wäre mit Seemannspfeife im Mundwinkel und grimmiger Miene eine Idealbesetzung für Popeye, und Bengt Kiene gibt den größenwahnsinnigen Revuestar mit einer souverän schmierigen Grandezza. Gegen seine Versuche, die Show ganz an sich zu reißen, müssen sich die restlichen Matrosen des Orchesters immer wieder verbünden.
Es müssen tatsächlich viele Menschen einst in ferner Kindheit unter den Hafenkonzerten gelitten haben. Wilfried Hippen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen