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„Bloß nicht zu Hause rumsitzen“

Rund 3.000 Jugendliche werden dieses Jahr ohne Lehrstelle bleiben. Von ihrem Traumberuf haben sich die meisten längst verabschiedet. Zur Not drücken sie weiter die Schulbank  ■ Von Sabine am Orde

„Einfach erst mal ein Jahr zu verreisen, das ist doch unverantwortlich“, sagt Boris und schüttelt den Kopf. „Da hat man doch später ein Loch in seinem Lebenslauf.“ Der 20jährige Wilmersdorfer hat kein Verständnis für seine ehemaligen Klassenkameraden. Für ihn war klar: Er will einen Job als Beamter im gehobenen Dienst. „Ein sicherer Beruf ist doch das Wichtigste“, sagt er. Seine Freundin Carola nickt.

Über gelbe und orangene Ordner gebeugt, sitzen die beiden im BIZ, dem Berufsinformationszentrum des Arbeitsamts am Ernst- Reuter-Platz. Boris will zur Justiz. „Mein Vater war Gerichtsvollzieher und mein Großvater auch“, sagt er und rückt die schmale goldene Brille zurecht, „ich war schon als Kind mit im Gericht und fand das immer spannend.“

Carola blättert in der Berufsmappe für Reiseverkehrskaufleute. Doch das ist nur die zweite Wahl. „Am liebsten will ich Bankkauffrau werden“, sagt die schmale 19jährige mit dem Pagenschnitt. 60 Adressen von Banken und Reisebüros hat sie sich aus den Gelben Seiten abgeschrieben, 30 Bewerbungen losgeschickt. Auch ein Bewerbungstrainig beim BIZ hat sie schon absolviert. Dabei wird Carola erst im kommenden Sommer Abitur machen. „Ein Jahr vorher anfangen muß man schon“, sagt sie, „sonst hat man gar keine Chance.“

Auch Serkan wünscht sich einen Ausbildungsplatz bei einer Bank. Seit Anfang des Jahres hat der 18jährige Neuköllner knapp 20 Bewerbungen verschickt, bisher kamen nur Absagen. Seine Chancen sind schlecht: Er hat einen Realschulabschluß mit einem Durchschnitt von 3,8. „Das dürfte kaum reichen“, meint Gabriele Kühne, Berufsberaterin beim Arbeitsamt. „Etwa 80 Prozent der Plätze in den gehobenen kaufmännischen Berufen gehen an Abiturienten. Realschüler müssen sehr gut sein.“ Kühne schätzt, daß sich auf jeden Ausbildungsplatz im Bankgewerbe bis zu 120 Jugendliche bewerben.

Nach Angaben von Arbeitssenatorin Christine Bergmann (SPD) haben sich in diesem Jahr 28.663 Jugendliche, die einen Ausbildungsplatz suchen, beim Berliner Arbeitsamt gemeldet. 13.889 von ihnen sind noch nicht vermittelt. Bei den jungen Männern gelten Maler, Kraftfahrzeugmechaniker und Einzelhandelskaufmann als Top-Lehrstellen, bei den Bewerberinnen werden Bürokauffrau, Einzelhandelskauffrau und Arzthelferin am häufigsten gewünscht. Die Senatorin schätzt, daß zwischen 2.500 und 3.500 Jugendliche am Ende ohne Lehrstelle dastehen.

Serkan befürchtet, daß er einer von ihnen sein könnte. Er sucht Rat im Aktionsbüro Ausbildung, das in seinen Räumen am Hermannplatz Ausbildungsplätze akquiriert, aber auch Jugendliche mit Rat und Tat unterstützt. „Inzwischen würde ich fast alles machen“, sagt Serkan und klopft nervös mit den Fingern auf den Beratungstisch, „aber ich will auf keinen Fall ein Jahr zu Hause rumsitzen.“ Wenn nichts klappt, will er sein Fachabitur machen.

Neben ihm wartet Yeliz, eine 19jährige mit langem braunem Haar. Sie will Informatikkauffrau werden. Yeliz ist froh, daß sie sich für die schulische Ausbildung erst im August bewerben muß. „Ich wußte ganz lange nicht, was ich eigentlich machen will“, sagt sie und lacht, „schließlich soll es ja auch was für die Zukunft sein.“ Inzwischen hat sie den Umgang mit Windows und Excel gelernt und ist deshalb optimistisch, daß es mit der Ausbildung klappen wird. Wenn nicht, will sie ein Jahr auf einer kaufmännischen Berufsfachschule überbrücken. Das machen immer mehr Jugendliche. Ein Drittel aller Zehntkläßler, schätzt Arbeitsberaterin Kühne, meldet sich erstmal sicherheitshalber auf einer der Berufsfachschulen an. „Die werden immer mehr zur Warteschleife.“

Wie Serkan und Yeliz klammern sich immer mehr Jugendliche nicht mehr an ihren Traumberuf. Heute seien die Jugendlichen viel flexibler als noch vor ein paar Jahren, berichten übereinstimmend die BeraterInnen. Die meisten weichen zuerst in andere Berufe im gleichen Berufsfeld aus, dann aber gehen sie darüber hinaus. „Sie sind sehr kompromißbereit“, weiß Berufsberaterin Kühne, „viele kriegen auch Druck im Elternhaus.“ Und wer in einem Lehrgang, auf einer Schule oder der Uni „parkt“, scheint das immer häufiger aus Verzweiflung zu tun und immer seltener, weil er unbedingt an seinem Traumberuf festhalten will. „Wenn es in diesem Jahr nicht klappt,“ urteilt Peter Schade vom Arbeitsamt Südwest, „ist die Wahrscheinlichkeit einfach zu gering, daß es im nächsten Jahr besser wird.“

Darauf hoffen aber Boris und Carola. Denn nach Boris' Schulabschluß im vergangenen Jahr hat es mit dem Start in die Beamtenlaufbahn nicht geklappt. Deshalb hat er angefangen, an der Humboldt- Uni Betriebswirtschaft zu studieren, aber das ist ihm zu schwer. Dieses Jahr will er sich wieder beim Gericht bewerben, vielleicht auch beim Finanzamt. Wenn es bei Carola „im Kaufmännischen nicht klappt“, sagt die Schülerin, „dann werde ich erstmal mit meiner Mutter Ferienwohnungen vermitteln und mich weiter bewerben“. Die beiden, die irgendwann ein Haus und zwei Kinder haben wollen, sind sich einig: „Die nächsten zwei Jahre sind für unsere Zukunft die entscheidenden.“

Das BIZ befindet sich ab 17. August in der Anhalter Straße 1, Telefon 25322626. Das Aktionsbüro Ausbildung ist in der Sonnenallee 1, Telefon 695067-70 oder -71 zu erreichen.

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