: Rausch, frisch vom Grab
Der Hasch-Einkauf langweilig, der Hanf verkümmert: da hilft nur der Gang zum Friedhof ■ Von Heike Haarhoff
Daß er, kaum entlassen, sich zurücksehnen würde in das hessische Internat, in dem er unfreiwillig sechs Jahre seiner Jugend verbracht hatte, das hätte sich Mario Wagner (Name geändert) „nie träumen lassen“. Zumal er, inzwischen mit Abitur in der Tasche, endlich wieder in Hamburg war, wo seine Eltern lebten. Wo die hessische Provinzialität ein Ende nehmen und er die weltoffene Stadt in vollen Zügen genießen sollte. Doch dann kam die Ernüchterung: „Ich dachte mir, schön, du besorgst dir was zu rauchen, aber in ganz Hamburg gab's keine Dealer.“
Jedenfalls keine, die der damals 19jährige auf offener Straße angesprochen hätte. „Ich hatte damals die Fehler, Mittelscheitel und Vollbart und stets meine Schimanski-Jacke zu tragen“, gesteht Mario, heute Pressesprecher eines bekannten Hamburger Unternehmens. „Und meine Mitauszubildenden in der Firma hatten auch keine Ahnung, wie man an das Zeug rankommt. Das waren alles Spießer.“ Die Verzweiflung, für immer ohne Haschisch zu sein, wuchs, und mit ihr die Sehnsucht nach der Erziehungsanstalt. Denn Hessen hin oder her, „immerhin hatte da stets jemand ein paar Gramm zu verkaufen.“
Ein Kumpel schließlich hatte die zündende Idee: Hanf-Eigenanbau im Blumentopf. Über eine verschlüsselte Zeitungsanzeige kam Mario an eine Tüte voller Hanfsamen. „Meine Eltern dachten, schön, wie der Junge sich für Kräuter begeistert.“ Ahnungslos sahen sie zu, wie das illegale Gewächs in ihrer Wohnung von Tag zu Tag höher wurde. Mario konnte die Zeit bis zur Ernte kaum abwarten: „Ich hatte ja die ganze Zeit nichts zum Rauchen.“ Doch die Abstinenz, so war er gewiß, würde sich lohnen: Die grünen Keimlinge gediehen prächtig, „erste Verzweigungen hatten sie sogar schon“.
Marios Augen glänzen noch heute bei der Erinnerung. Er hatte sich extra Literatur aus der Bücherhalle besorgt und erfahren, daß Hanf ein „Nachtschattengewächs“ ist und „trocken fermentiert“ werden muß. Dann der Schock: „Von einem Tag auf den andern sind sie mir fast alle vergammelt.“ Hatte er zuviel gegossen? Zu wenig? Die Selbstvorwürfe zerfraßen ihn. Am kümmerlichen Resultat änderte das freilich wenig.
Wieder war es eine Zeitungsannonce, die Marios weitere Drogenkonsum-Erlebnisse bestimmen sollte: „Eine Frau suchte per Chiffre Hanf-Pflanzen. Ich hab ihr die fünf gegeben, die ich noch hatte, nur weg damit, dachte ich.“ Im Gegenzug verlangte Mario nur eins: Adressen. „Sag mir, wo ich endlich was zu rauchen kriege.“
Und so kiffte er endlich wieder. Kokelte die Plättchen mit dem Feuerzeug an, sog den Duft ein, zerkrümelte seine bonbongroßen Einkäufe über Tabak. Baute Tüten. Doch irgendwann „war ich wieder auf der Suche nach dem Kick“. Das mit dem Hasch-Besorgen war zur langweilenden Gewohnheit geworden. Am Tag dieser Erkenntnis, es war Totensonntag 1983, folgte Mario dem Tip eines Freundes – und kletterte über den hohen Stacheldraht nachts um zwei Uhr auf den Friedhof Ohlsdorf.
Mario hatte es auf die Gestecke mit den Mohnblumen-Kapseln abgesehen. „Das Tolle ist ja, daß in der Totenwoche auf den Friedhöfen so richtig aufgefahren wird.“ Soviel er tragen konnte, packte er von den tischtennisballgroßen Mohn-Kapseln in Jackentaschen und Plastiktüten. „Mindestens 100 Gräber“ inspizierten er und seine Freunde. „Das kannst du als Grabschändung ansehen“, sagt Mario heute, „bei uns war die Neugier größer“. Die Neugier auf die halluzinogene Substanz, die sich angeblich in den Mohnkapseln befinden und durch bloßes Auskochen zum Konsum gewinnen lassen sollte.
Die Kumpel machten sich noch in derselben Nacht ans Werk. „Nur mit Wasser geht es nicht, ihr braucht viel Essig“, hatte einer gewarnt. Mario konnte mit sogar zwei Flaschen Essig aufwarten. Stundenlang ließen die fünf jungen Männer, wie zum Ritual um den Kochtopf versammelt, das säuerlich riechende Gebräu köcheln. Sud bildete sich. „Genau genommen war das eine eklig braune Brühe, die wie Essig pur schmeckte und irre stank.“ Zucker und Zitrone wurden beigegeben. Der Geschmack blieb nahezu unverändert.
Mehr als eine Tasse brachte Mario nicht runter – und spürte außer einem akuten Brechreiz nichts. „Die Wirkung tritt erst nach einem halben Liter ein“, lachte ihn ein Freund aus und setzte den randvoll gefüllten Bierhumpen an. Wie der Mohn-Rausch war, hat Mario nie erfahren: Sein Kumpel schloß sich für Stunden im Klo ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen