: „Keine Panik!“
Viele Russen wollen noch Dollar ergattern. Doch das ist fast unmöglich geworden. Jelzins Rücktritt gefordert ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
„Heute morgen sind wir in einem anderen Land aufgewacht“, schrieb gestern die Moskauer Tageszeitung Kommersant: „In einem Land, in dem in allernächster Zukunft die Preise steigen werden, wo es einen Mangel an bestimmten Waren geben wird, wo ein schwarzer Markt für ausländische Währungen entsteht. Der einzig vernünftige Rat in dieser Situation kann nur lauten: keine Panik!“
Von genau diesen Erwägungen ließen sich gestern offenbar KäuferInnen und BankkundInnen im Zentrum der russischen Hauptstadt leiten. Am Montag hatte man an den wenigen geöffneten Wechselschaltern bis zu zehn Rubel für einen Dollar hinblättern müssen. Am Dienstag sanken die Kurse wieder.
Am Tauschschalter in einem großen Möbelgeschäft am Majakowski-Platz bot man den Dollar gestern morgen sogar für wenig mehr feil als am Vortag an der Moskauer Börse: für 6,63 Rubel. Auf die Frage nach einem Anstieg der ohnehin astronomischen Preise für die dort feilgebotenen spanischen Möbel gab es die gleiche Antwort wie in anderen Geschäften: „Vorerst nicht, aber in ein paar Tagen vielleicht.“ Schon mittags stieg dann der Dollar allerdings sogar an der Börse auf 8,88 Rubel.
In der russischen Hauptstadt blinkten gestern die Bildschirme der Bankautomaten lediglich die Nachricht: zeitweilig geschlossen. In den Banken selbst wurden überhaupt keine Fremdwährungen ausgehändigt. Die Möglichkeit, mit internationalen Kreditkarten Bargeld abzuheben – gleich in welcher Währung –, war stark eingeschränkt. „Wer eine American- Express- oder Eurocard hat, kann sich hier bei uns in eine Warteliste für Freitag einschreiben“, erklärte eine blasse junge Frau in einer Filiale der Most-Bank. „Abheben kann man aber nur unter tausend Dollar, und ob dann genug Geld da sein wird, wissen wir auch nicht.“
Falls die Einschränkung der Kreditkarten-Nutzung bis Monatsende anhielte, säßen zum Beispiel die LeiterInnen kleiner ausländischer Handelsvertretungen in der Bredouille. In dem Wahn, in einem fast normalen Land zu leben, hatten sie sich in den letzten Jahren daran gewöhnt, die Gehälter ihrer Angestellten jedes Monatsende per Kreditkarte von ihren Konten in der Heimat abzuheben. „Wenn das so weitergeht“, sagte der Inhaber einer kleinen, privaten französischen Rundfunk-Nachrichtenagentur gestern: „Dann müssen wir jeden Monat unter Kollegen einen Kurier bestimmen, der in den Westen fliegt und uns allen Bargeld mitbringt. Ganz wie in der guten alten Sowjetzeit.“
Die schwersten Kopfschmerzen bei russischen Bankern lösten gestern allerdings die eigenen Landsleute aus. Vor der bereits erwähnten Most-Bank-Filiale warteten vormittags um zehn Uhr bereits etwa 25 Menschen. Noch mehr erblassend erklärt die junge Angestellte: „Ja, die meisten wollen ihre Konten auflösen. Auch dafür haben wir Wartelisten.“ Die Wartenden gaben sich relativ gelassen. Spätestens seit dem letzten Rubel- Sturz im Herbst 1994 haben sie gelernt, das russische Sprichwort zu beherzigen, nach dem man nicht alle Eier in einen Korb legen soll.
Nicht nur den Bürgern, auch den Experten erscheint die Situation auf dem russischen Finanzmarkt zur Zeit unberechenbar. Allgemein wird damit gerechnet, daß Präsident Jelzin einige Köpfe rollen läßt, um seine politische Verlegenheit abzureagieren. Als erstes traf es gestern seinen Finanzberater und ehemaligen Finanzminister, Alexander Liwschiz. Er deutete in seiner Abschiedsrede an, daß er sich für den Irrtum des Präsidenten verantwortlich fühle, der noch am Samstag eine Rubel-Abwertung für ausgeschlossen erklärt hatte. Angeboten hatten ihren Rücktritt am Sonntag auch Premier Kirijenko und Zentralbankchef Dubinin, aber der Präsident ging darauf nicht ein.
Hingegen kündigte gestern der Chef der kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, an, bei der Sondersitzung der Staatsduma am Freitag den Rücktritt von Präsident Boris Jelzin zu fordern. Jelzin selbst sei der Hauptverantwortliche für die Finanzkrise und offenkundig nicht in der Lage, eine Regierung zu führen.
Die russische Zentralbank hat gestern bekräftigt, daß der Staat seine Auslandsschulden bedienen werde. Das am Montag verkündete 90tägige Schuldenmoratorium solle nur für Kredite an Unternehmen mit einer Laufzeit von mehr als 180 Tagen und befristete Devisenkontrakte gelten. Profitieren werden davon vor allem die überschuldeten Banken in Rußland, aber auch der Staat, denn auch die Rückzahlung von Unternehmensschulden geht zu Lasten der Devisenreserven des Landes.
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