: Die Euphorie des Magyaren
Mit dem Titel im Hammerwerfen hilft der einstige Dopingsünder Tibor Gecsek, wenigstens einem von Ungarns vielen Ansprüchen an die EM zu genügen ■ Aus Budapest Peter Unfried
Vor nun auch schon wieder tausendundeins Jahren hat ja ein Istvan als erster den Job des ungarischen Staatsoberhauptes übernommen, sich drei Jahre darauf zum ersten König krönen lassen, um später als der Heilige Stephan in Himmel und Geschichte einzugehen. Um das zu feiern, hat man gestern in Ungarn nicht gearbeitet. Das war natürlich schön – aber auch ein bisserl Pech für den Gecsek Tibor, der doch tags zuvor den EM-Titel im Hammerwerfen gewonnen hatte und jetzt bis heute warten muß, um darüber etwas in den Zeitungen zu lesen.
Mit dem Hammerwurf-Gold ist es für die Ungarn gekommen, wie sie es sich erhofft hatten – und doch ganz anders. Das Nepstadion war mittelprächtig gefüllt, die Leute jubilierten, und auf der Bahn hüpfte Gecsek nach seinem Siegeswurf über 82,87m wie ein Känguruh dem Abendhimmel von Budapest entgegen.
Für diesen wichtigen Heimsieg vorgesehen war aber nicht Gecsek, mit 33 eigentlich der alte Mann, sondern der jüngere Balasz Kiss, das omnipräsente Gesicht, über das diese EM dem nicht eben leichtathletikverrückten Land vermittelt werden sollte. Kiss (26) hat mit seinem überraschenden Olympiasieg von Atlanta einen Wiederbelebungsversuch für die darniederliegende ungarische Leichtathletik geleistet. Er lebt seit einigen Jahren hauptsächlich in Los Angeles und hat dort an der Uni von Southern California einen Wirtschaftsabschluß gemacht. Mit dem Gold von Atlanta hat er sich als Nummer vier in den erlauchten Kreis der Olympiasieger in Ungarns Traditionssportart eingereiht. Nun mußte er sich mit Platz zwei begnügen (81,26m), hinter dem Landsmann. Manche hatten nach seinen Problemen, mit Platz vier bei der WM in Athen zurechtzukommen, Zweifel, wie er sich schlagen würde. Diese Zweifel wurden genährt, als die Pressekonferenz ohne ihn beginnen mußte. Als er dann aber doch kam, lächelte er leise und sagte: „Wenn man hier von verlieren sprechen kann, dann muß man es auf eine noble Art tun.“
Gecsek widerlegte derweil den Nationaldichter Sandor Petöfi, der in seinem Gedicht „Ungar bin ich“ die Melancholie des Magyaren mit den Worten definiert hat: „Zum frohen Lachen bring ich's nie geschwind.“ Nur als der ebenfalls überglückliche deutsche Überraschungsdritte Karsten Kobs (80,13m) sein Bronze gegen Gold eintauschen wollte, wurde Gecsek wortkarg und sagte nur: „No.“ Ansonsten aber hielt er endlose Reden und feixte, daß es eine Pracht war.
Es ist immerhin auch erst ein Jahr her, daß seine Dopingsperre abgelaufen ist. Ursprünglich sollte sie vier Jahre betragen, wurde dann aber durch den grundsätzlichen IAAF-Beschluß von Athen auf zwei Jahre herabgesetzt. Eine unglückliche Sache war das damals, als Gecsek vor drei Jahren, als WM-Dritter aus Göteborg kommend, in Berlin positiv getestet worden war. Eine dermatologische Salbe für seinen maladen Rücken hatte Steroide enthalten; schuld war natürlich der Arzt.
Die Sache ist jedenfalls vergessen oder so im allgemeinen Bewußtsein gespeichert, daß die Version des Athleten möglicherweise ja stimmen könnte. Bei der Sieger- Pressekonferenz wurde sie nicht weiter erwähnt. Nur soviel sagte Gecsek: Er habe immer gehofft, „mal ein richtig gutes Ergebnis bei einem Großereignis zu erzielen“. Darauf habe er „diese zwei Jahre hingearbeitet“. Mit 75 Metern kam er im September vergangenen Jahres zurück, war zweimal in den Staaten, legte jeden dritten Tag einen Wettkampf ein und war wieder voll da, als er Mitte Juli in Nizza hinter Kiss mit 81,44m Zweiter wurde. Er kam wirklich aus dem Windschatten des anderen. „Es war ein Vorteil für mich, daß Balasz der Favorit war“, sagte er.
Warum die Ungarn im Hammerwerfen so gut sind? „Einfache Sache“, sagt Gecsek, „es gibt zwei gute Schulen.“ Eine ist in Szombathely, wo er bei Pal Nemeth trainiert, wie auch der EM-Achte Annus. Die andere liegt in Veszprem, wo Kiss sein Handwerk gelernt hat. Es heißt, die beiden könnten gut miteinander, sind vor ein paar Wochen zusammen durch Paris gezogen, und zumindest der extrovertiertere Gecsek nennt den weniger offenen Kiss seinen Freund. „Wir mußten das tun“, sagte er und klopfte am anderen rum, „es gibt keine andere Chance hier vor Heimpublikum.“
Daß es kein weiteres Großereignis im Nepstadion gibt, ist allerdings nicht raus. Wie vor einem Millennium den Vorgänger Istvan, so drängt es Ministerpräsident Orban nach Westen: Die EM sieht er auch als Teil seiner Bewerbung für die Europäische Union. Ungarn kann es auch, das soll der Rest (West-)Europas sehen, und deshalb war er am Mittwoch bei IAAF-Präsident Primo Nebiolo, um wegen der WM 2001 vorzufühlen. Auch die Fußball-EM 2004 im Duett mit dem Nachbarn Österreich ist ein Thema. Kriegte man die, müßte man im Nepstadion nicht die oberen Reihen abdecken, um es weniger leer aussehen zu lassen.
Man kann es ja verstehen: Die Leute haben hier einfach genug zu tun. Gestern abend mußte man zum Gellertberg, um sich das berühmte Feuerwerk zu Ehren Istvans anzusehen. Und weil dem Stephanstag heute gleich noch ein Feiertag folgt und dann das Wochenende, sind viele Städter längst verschwunden, es heißt, an den Balaton.
Daß sie aus nationaler Sicht noch viel erhoffen dürfen, muß bezweifelt werden. Gecsek ist der erste ungarische EM-Sieger seit 1978, der erste männliche seit 1966. Selbst in seiner Supereuphorie wollte er die Frage nicht beantworten, ob unter jenen 72 ungarischen Athleten, die am Wochenende starten, noch einer die Vorgabe des Ministerpräsidenten Orban umsetzen könnte, der sich mehrere „ungarische Champions“ wünscht. Nur wie es funktioniert, weiß er: „Gott gibt dir die Chance, die du haben willst“, sagte Gecsek Tibor, und für einmal war ein stiller Glanz in seinem verschwitzten Gesicht: „Dann mußt du selbst 82 Meter erreichen.“ Gut, daß man so einen schönen Satz heute in aller Ruhe nachlesen kann.
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