: Barocke Beiläufigkeiten
Große Klasse: Les Ballets C. de la B. tanzen „Iets op Bach“ ■ Von Christiane Kühl
Hätte die Beiläufigkeit noch nicht existiert, Alain Platel hätte sie erfinden müssen. Da sie aber nun schon da war, hat er einfach einen Nachschlag draufgelegt. Eine Bühne ist eine Bühne – ja klar, aber auch: ja, und? Heißt das, daß deshalb dort die Dinge stringenter als im wirklichen Leben geschehen sollten? Hallo, ich bin der Prolog, hallo, ich der Höhepunkt? Warum sollte es nicht auch da an fünf Ecken gleichzeitig brennen, und kein Mensch kümmert sich drum? Es gibt, genaugenommen, kein Gebot, das einem Ensemble untersagt, mit dem Rücken zum Publikum zu tanzen und dabei mit Kreissägeblättern auf ein Leonardo-di-Caprio-Poster zu werfen. Es ist eher so, daß, genaugenommen, solche Dinge viel öfter auch im wirklichen Leben geschehen sollten.
Der belgische Choreograph Alain Platel arbeitet mit verschiedenen Compagnien, darunter auch seit Jahren Les Ballets C. de la B., deren Iets op Bach seit Donnerstag beim Internationalen Sommertheater gastiert. Schon 1996 waren sie zu Gast beim Festival; für ihre Produktion La Tristeza Complice wurden sie damals mit dem Pegasus-Preis ausgezeichnet. Mit Iets op Bach, dem dritten Teil einer Barock-Trilogie, ist nun ihre letzte gemeinsame Arbeit zu sehen, da Platel sich von Tanz und Theater verabschieden will. Der 42jährige studierte Sozialpädagoge, der seit zehn Jahren neben Anne Teresa de Keersmaeker, Wim Vandeybus und Jan Fabre zu den renommiertesten belgischen Choreographen zählt, hat, wie er im Interview verriet, Angst, sich nur noch zu wiederholen.
Und tatsächlich erinnert der erste Blick auf die Bühne sehr an La Tristeza Complice: Wieder sitzt rechts erhöht ein kleines Orchester, wieder ist die Ausstattung karg, abgerissen und beläuft sich in erster Linie auf urbane Fundstücke, wieder bewegt sich eine Handvoll eigenwilliger Typen scheinbar ziellos auf der gemeinsamen Fläche in der je eigenen Welt. Ein bißchen befürchtet man eine weitere theatralische Nachhilfestunde in Sachen Jugendkultur: Zernarbt, blondgefärbt und bauchfrei begrüßt ein junger Tänzer stumm das Publikum, ganz so, als sei er beim Trainspotting unter den Zug geraten. Doch dann gelingt es Platel, mit den im wesentlichen gleichen Ingredienzien noch einmal ein neues, überzeugendes Stück zu inszenieren. Seine Gabe, Welten der Beiläufigkeiten zu kreieren, dem Geschehen keinen Fokus zu geben und doch alle Aufmerksamkeit zu bündeln, ist phänomenal.
Das Leben geht so seinen Gang, man küßt sich, schlägt sich, und wenn sich's anbietet, tanzt man eben oder rammelt unterm Wäscheständer. Die zweijährige Tochter eines Darstellers tapst unermüdlich hin und her, ein Geländer beginnt zu brennen, das Orchester spielt Bach in wunderbarer Klarheit. Die Gesänge um Tod und Gott haben eine derartige Präsenz, daß die artistischen Versuche, Aufmerksamkeit zu erlangen, eine groteske Komik bekommen. Was nicht heißen soll, daß die Nummer mit den Bowlingkugeln auf dem Bauch nicht große Klasse wäre. Zwar hätte die Performance auch 20 Minuten eher aufhören können – fast genauso gerne aber hätte man sie auch den Rest der Nacht verfolgt.
noch heute, 20 Uhr, Kampnagel
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