: „Sicher ein großer Athlet“
Mit seinem rigoros herausgelaufenen EM-Sieg über 800 Meter zeigt Nils Schumann, daß er der vielerorts ersehnte neue deutsche Vorzeigeathlet sein kann ■ Aus Budapest Peter Unfried
Was für einer der Schumann ist, das weiß man ja nun. Einer, der die Ellbogen ausfährt, wenn sie gebraucht werden, sich freie Bahn schafft, selbst wenn er dabei einen richtig berühmten Leichtathleten zur Seite räumen muß. „Hätte er etwas drauf gehabt, wäre er durchgelaufen.“ So was sagt Schumann, und das mit gewisser Berechtigung. Wilson Kipketer, der 800-Meter-Weltmeister und Weltrekordler, blickte aber nur baß erstaunt zur Seite. Kipketer (25), dem Paß nach Däne, ist tatsächlich nach seiner Malaria nicht in die Form des vergangenen Jahres gekommen, was schon seine erste Niederlage seit ewigen Zeiten zuletzt in Zürich gezeigt hatte.
Er tat nur so, als er sich sofort an die Spitze des EM-Finales setzte und die 400 Meter zügig in 49,92 Sekunden passierte – Schumann allerdings im Schlepptau. Das Problem ergab sich dann eingangs der Zielgeraden, als Schumann auf der zweiten Bahn an Kipketer (innen) und dem Italiener Andrea Longo (außen) vorbei wollte und auch vorbeikam. Die offizielle Version (Schumann): „Longo ist eng an mich ran und hat mich gegen Wilson gedrückt.“ Im Fernsehen, sagte er ganz richtig, sehe das „sehr unglücklich aus“. Eher so, wie Kipketer es sah, der behauptete, jemand habe ihm „die Hand herumgerissen“, weshalb er auf Platz acht zurückfiel. Hand anzulegen ist allerdings nicht unüblich in der Branche. Wann es clever ist und wann unfair, ist Ermessensfrage.
Als Sonntag nacht die ganze EM vorbei war, ward jedenfalls auch der dänische Protest abgelehnt, und der glückliche deutsche Leichtathletik-Verband durfte sein neuntes EM-Gold in Budapest zählen. Und Schumann ist schnurstracks auf dem Weg zum Branchenhelden, zumindest zum nationalen. Im übrigen war die Leistung Schumanns in jedem Fall außergewöhnlich: 1:44,89 min – im wichtigsten Rennen des Jahres hat er seinen ohnehin erstaunlichen Leistungssprung noch mal um 86/100 vergrößert. Das hat nun bestätigt, was Leute, die ihn besser kennen, längst wußten: Der Junge kommt groß raus.
In der Leichtathletik muß man ja heute noch zwischen dem Grad an Berufssporttum differenzieren. Schumann sagt, er „agiere zur Zeit als Profi“. Im Vorjahr hat er Abitur gemacht, die Junioren-EM gewonnen, eine zunächst zur Sicherheit geplante Banklehre nach wenigen Wochen abgebrochen („Was soll ich da?“), danach ist er nur noch gelaufen. Am 1. März dieses Jahres wurde er einer kleineren Öffentlichkeit bekannt, indem er sehr überraschend bei der Hallen-EM in Valencia den Titel holte – damals war er frech durch eine sich auftuende Lücke an Olympiasieger Rodal vorbeigespurtet.
Danach zeigte sich, daß er sich übernommen hatte, die anfälligen und daher im Winter bereits prophylaktisch operierten Schienbeine streikten. Sein Vollprofitum, sagt er, gab ihm den Freiraum, die fast viermonatige Verletzungspause in den Wochen vor der EM aufzuholen. Bei den nationalen Meisterschaften Anfang Juli war noch der vormalige nationale Branchenführer Nico Motchebon schneller, eine Woche später siegte Schumann in Nürnberg in persönlicher Bestzeit von 1:45,75 min, unterstrich danach sein Spurtvermögen mit einer 46er-Zeit über 400 Meter und zog sich vier Wochen nach Zinnowitz zurück, wo er „glänzende Zeiten“ hinlegte, wie sein Trainer Dieter Hermann sagt. Hermann, ein ehemaliger DDR- Mittelstreckler, trainiert in Erfurt mit harter Hand, wie es heißt, eine Läufergruppe um Schumann, die wegen der Unterstützung einer Ziegelfirma als SV Creaton Großengottern firmiert.
Schumann ist 20, trägt Grunge- Bärtchen und ist zu Hause in Bad Frankenhausen nahe Erfurt. Er mag es, in der Zeitung zu stehen. Wie DLV-Präsident Digel es schätzt, erzählt er selbstverständlich und gar nicht beleidigt von Art und Anzahl seiner Dopingkontrollen. Schon vor den Vorläufen hatte er gesagt, er sei froh, daß er als Hallen-Europameister an der Startlinie für die anderen „nicht so ein kleiner Sportler aus Deutschland“ sei.
Jetzt ist er auch international ein ernstzunehmender Mann. Ob ihm der einflußreiche Kipketer seinen Coup übelnimmt und dem Jungen demnächst eine Lehre erteilt, muß sich zeigen. Falls man das mit einem Schumann überhaupt machen kann. Jos Hermens, niederländischer Manager von Haile Gebresilasie, hat in Budapest genau hingesehen. „Wir brauchen neue Europäer“, sagt er und meint die Leichtathletik allgemein und die Golden League im speziellen. Was für einer Schumann wird, ist Hermens längst klar. Er wird, sagt er, „sicher ein großer Athlet werden“. Das er sich in Budapest den Weg freikämpfte, wird ihm eher helfen. In Zeiten wie diesen kann jede Branche innovative Kräfte brauchen, die zum Wohle des Ganzen auch mal fünfe gerade sein lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen