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Schröder noch mal, wo leben wir denn?

■ betr.: „Blindes Vertrauen“ (Ham burg: Mit welchen Mehrheiten darf das Volk Gesetze machen?) von Silke Mertins, taz vom 24.8.1998

[...] In der ersten Spalte bezweifelst Du das Mehr an Demokratie durch hürdenlose Volksentscheide. Ist ein Volksentscheid mit nur zum Beispiel zehn Prozent Wahlbeteiligung überhaupt rechtmäßig? Ja, weil es in den meisten Demokratien keine Pflicht zur Abstimmung gibt, es ist Dein freier Wille, abstimmen zu gehen oder nicht. [...]

Demokratischer als eine entsprechende durch das Parlament getroffene Entscheidung ist sie, weil sich der Wille des Volkes unmittelbar äußern konnte. Repräsentativität ist nichts aus sich selbst heraus Wertvolles, es ist nur eine Krücke, um die Demokratie auch jenseits der antiken Stadtstaaten praktikabel zu machen. Direkte Demokratie ist dadurch ein Mehr an Freiheit, eben wegen der unmittelbaren Entscheidungsmöglichkeit der einzelnen Bürgerin. Die so zustandekommenden Entscheidungen an sich sind nun weder besser noch schlechter als ihre repräsentativen Gegenstücke. Der Wille des Volkes führt genausowenig zwangsläufig zum richtigen Ergebnis, wie die Entscheidungen der Bürgerschaft dies tun. Das Verfahren hat wenig mit dem Ergebnis zu tun.

[...] Wer die Hürden für Volksentscheide hoch setzt, der setzt sie zu hoch. Dann gibt es nämlich, wie bei mir in Baden-Württemberg, innerhalb von 40 Jahren weniger Bürgerentscheide als in Bayern in drei Jahren. Wer die Hürden hoch setzt, der will keine direkte Demokratie, behindert sie aber dort, wo er noch kann. Hürden sind grundsätzlich nicht rechtfertigbar, außer, mensch leugnet die Zurechnungsfähigkeit der Bürgerin. Wer aus Angst vor reaktionären Bürgerbegehren die Bürgerin durch hohe Hürden nicht selbst entscheiden läßt, bevormundet sie und spricht ihr die Fähigkeit zur Politik ab und sich gleichzeitig zu und erteilt sich gleichzeitig das Mandat, besser über das Verfahren und die evtl. Ergebnisse urteilen zu können als andere. Das verletzt den Gleichheitsgrundsatz fundamental und ist deshalb unzulässig.

Aber direkte Demokratie reduziert doch komplexe Fragen auf einfache Ja-nein-Entscheidungen. Dies ist teilweise richtig. Dagegen spricht folgende Überlegung: Komplex sind meist nicht die Fragen, sondern die Diskussion und die möglichen alternativen Antworten auf die Frage. [...] Tilmann Holzer, Mannheim

[...] Die Überschrift hat mich als überzeugten Basisdemokraten schon stutzig gemacht. Darf das Volk Gesetze machen? Ich möchte fragen, wer, wenn nicht das Volk (siehe GG)? Dies in Frage zu stellen obliegt eigentlich anders ausgerichteten Medien, aber dann auch noch eine lupenreine CSU-Argumentation zu übernehmen, das hat mich doch fast zur Verzweiflung gebracht. [...] Nur noch folgendes an die Autorin:

[...] Rechnen Sie doch bitte mal bei einem „normalen Gesetz“ vom Bundestag die prozentuale Quote auf die Wahlberechtigung mit Einbeziehung der Wahlbeteiligung der Bundestagswahl '94 (selten mehr als 20 Prozent Zustimmung) um.

Bitte in Zukunft mehr Argumente und weniger Schwarzmalerei. Demokratie muß gelebt werden und nicht verordnet. Jürgen Meinold, Bamberg

Das war schon eine arge Zumutung, was Silke Mertins da zu Volksentscheiden (in Hamburg) schrieb. Es geht darum, daß wir selbst entscheiden dürfen. Und was dabei rauskommt, ist je nach individuellem Standpunkt mal richtig und mal falsch. So sind die Erfahrungen in der Schweiz (natürlich ohne Quorum und seit 150 Jahren), so sind sie in Bayern und anderswo.

Entsetzt stellt Silke Mertins fest, daß dann womöglich sechs Prozent der Wahlberechtigten die Wiedereinführung geschlossener Heime beschließen könnten. Ja ist es denn besser, wenn das ein paar Hansel im jeweiligen Parlament tun? Und wenn ihr das Thema (oder ein anderes) wichtig ist, warum trägt sie dann nicht bei, ein paar Prozent des ihrer Meinung nach wohl völlig desinteressierten Stimmvolks zu überzeugen, gemäß ihrem Originalton: „Aber ist es tatsächlich unzumutbar, 20 Prozent der Wahlberechtigten für ein neues Gesetz hinter sich zu bringen?“

Und Silke Mertins bringt alle weiteren Argumente aus der 50er- Jahre-Mottenkiste der repräsentativen Demokratie: komplexe Themen werden auf Ja-nein-Fragen reduziert (Ja, wie wird denn im Parlament abgestimmt? Die Komplexität drückt sich ja wohl in der Vorlage aus, nicht in der Abstimmungsprozedur), die Rechte der Minderheiten seien nicht geschützt (Ja, aber im Parlament ganz doll. Und ganz ohne Kampf dieser Minderheiten...) usw. Und als Schlußargument: „Finanzstarke Interessengruppen können erheblichen Einfluß auf den Entscheidungsprozeß der Wahlberechtigten nehmen.“ Schröder noch mal, wo leben wir denn? Die finanzstarken Kreise haben ja derzeit überhaupt keinen Einfluß im Parlament, was müssen die sich freuen über künftige Volksentscheide! Holger Bergmann, Reutlingen

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