: Blut, Schweiß und Training
Wer glaubt, es sei damit getan, einfach mit dem Rauchen aufzuhören, irrt gewaltig. Wer schon nicht zur Schokolade greift, schnappt sich mit Sicherheit eine Sportfibel – und beginnt zu laufen. Und schon ist es passiert: Man ist sportifiziert. Das ganze Leben will nun nach der neuen Leidenschaft ausgerichtet sein. Davon, was passiert, wenn man die eine Sucht los wird ■ Martin Krauß
Am Anfang wollte er nur nicht mehr rauchen. Einfach alles weiter so machen wie bisher. Nur halt keine Zigaretten mehr. Mal mehr und mal weniger Bier trinken, Fleisch eigentlich täglich essen, und Kopfweh kriegen wollte er auf gar keinen Fall, bloß weil neben ihm jemand eine Zigarette anzündet.
Dann kam die Idee mit dem Laufen hinzu. Eigentlich ist er immer gern gelaufen. Egal, ob joggen, wandern, spazierengehen oder bergsteigen. Sobald es sportlich wurde, pflegte er es aber zu unterlassen. Da wollte er lieber eine rauchen. Nun aber, mit regelmäßigem Laufen, sollte das Nichtrauchen besser klappen.
Am Anfang seines Entschlusses stand das Buch „Endlich Nichtraucher!“ von Allen Carr. Das Buch schlechthin für solche Fragen. Es hat ihm gefallen, obwohl dort Dinge behauptet werden, bei denen er darauf beharrt, daß er damit nichts zu tun hat. So einen Bekennermut hat er immer nur dann, wenn es darum geht, nicht als Parteigänger von irgend jemand angesehen zu werden. Er ist doch schließlich Individualist. Carrs These von der Gehirnwäsche, der Raucher von der Zigarettenindustrie unterzogen würden, ist so ein Beispiel. Damit will er nichts zu tun haben. Oder Carrs Freude darüber, daß Rauchen immer mehr sozial geächtet werde und man, um nicht irgendwann schlecht angesehen zu werden, schnell damit aufhören solle.
Aber sonst hat ihm das Buch schon geholfen. Schließlich liest es sich so weg. Hat man erst mal aufgehört, dann hat es ja seine Funktion erfüllt. Man muß dann nie wieder über Verschwörungen von Zigarettenunternehmern nachdenken. Nur weil er nicht mehr raucht, wünscht er nämlich nicht, missionarisch tätig zu werden oder sich in Kreisen, die so etwas im Dienst der Gesundheit tun, bewegen zu müssen. Da er aber nicht nur nicht mehr raucht, sondern gleichzeitig anfing zu laufen, wird die Abgrenzung von solchen Typen zum Problem. Da muß man ja geradezu Angst vor neuen Freunden haben.
Statt des Nichtraucherbuchs liest er nämlich nun solche Titel: „Ausdauertrainer Laufen“, „Das komplette Buch vom Laufen“, „Leichtathletik, Band I: Laufen“ oder einfach nur „Laufen. Sportmedizinische Grundlagen, Trainingslehre und Risikoprophylaxe“. Aus dem letzten liest er vor: „Da aber das Ozon hinsichtlich einer gesundheitlichen Gefährdung harmloser ist als das Zigarettenrauchen (Herzinfarkte, Krebsvorkommen usw.), würde man sich jedoch lieber dieselbe Medienresonanz wie beim Ozon, ja sogar noch mehr Warnungen und Panikmache in bezug auf Zigarettenrauchen wünschen.“ Solche Sätze, sagt er, lesen sich nicht einfach weg, denn das Laufen und die geistige Beschäftigung mit dem Laufen gehörten ja jetzt zum Leben. Und er muß sich ja ins Laufen einlesen, um richtig zu trainieren und sich eine möglichst gute Technik zu erarbeiten.
Auch wenn er aus eigener bewußter Entscheidung allein Sport treiben will, wenn er Vereinsstammtische meidet und sich keinen Trainer wünscht, gehört er doch zur Sportlergemeinde. Einen Laufpartner, der ihm zur Motivation in den Hintern treten soll, will er genausowenig neben sich haben wie eine Laufpartnerin, die seine Interessen teile, woraus ja was werden könnte. Nein, nein, nein, obwohl er damit wirklich nichts und gar nichts zu tun haben möchte, kommt er unausweichlich ständig mit der Laufgemeinde in Kontakt: beim Lesen, beim Sportschuhekaufen und beim Gegrüßtwerden, während er durch den Park joggt.
Außerdem hat er bemerkt, daß es gewaltige Auswirkungen bezüglich seiner Pulsfrequenz hat – schließlich trainiert er ja richtig gezielt –, ob er morgens Tee und tagsüber Wasser und Säfte trinkt, oder ob er soviel Kaffee wie früher üblich in sich hineinkippt. Weil er richtig trainiert, muß er auch auf die Ernährung achten. Und was eine sinnvolle Ernährung ist, steht auch in diesen Büchern. Innerhalb weniger Wochen hat er sich das Teetrinken angewöhnt. Er ißt kaum noch Fleisch und trinkt vielleicht ein Glas Bier oder Wein in der Woche. Und dieses eine Bier ist der Kompromiß, den er eingeht zwischen den Weiter-so-Vorsätzen und dem simplen Befund, daß es sich nicht mit seinem neuen Habitus verträgt.
Der Habitus ist nämlich sportlich. So sportlich, daß ihn sein Bauchansatz wirklich stört und er sich schon ernsthaft darüber ärgert, warum der nach nur wenigen Wochen Laufen immer noch nicht weg ist. Sogar die sportiven Angebote von Nike, Adidas, Puma oder Reebok findet er nicht schlecht. Ein graues Adidas-T-Shirt, auf dem der Zehnkämpfer Frank Busemann zu sehen ist, trägt er oft, wenn er läuft. Es gefällt ihm. Und die kostenlose Laufzeitung eines Sporternährungsherstellers hat er auch abonniert. Er freut sich immer auf die Lektüre, so wie er sich früher auf die Konkret gefreut hat. Immer mehr, sagt er, gerate er in diese merkwürdige Laufgemeinde hinein. Früher hat er das nie gewollt.
Aber jetzt ist einiges anders, jetzt akzeptiert er deren ästhetische Standards, die jahrelang nicht seine waren. Dieses Hineingeraten in die Gemeinde der Langläufer geschieht freiwillig. Das irritiert ihn doch immer wieder. Er wird Teil einer Gruppe, der er sonst vorwirft, daß schon ihre bunten enganliegenden Hosen beweisen, daß ihnen Geschmack und Feingefühl abgehen. Früher hat er über Joghurt- und Müslifresser gespottet, heute freut er sich nach morgendlichem Lauf aufs Müslifrühstück.
Das alles geschieht, obwohl er ohne Verein, ohne Partner, ohne Trainer und ohne Lauftreff Sport treibt. Es geschieht, obwohl er auch mit alter Trainingshose und alten Turnschuhen Sport treiben könnte, und wenn er bessere Füße hätte, könnte er wohl auch barfuß laufen. Aber so etwas will er nicht, und er kann das sogar begründen. Er zeigt ein hellblaues Büchlein aus DDR-Beständen über den Rennsteiglauf in Thüringen. Das hat er nie gelesen. Nicht weil die Tips falsch wären, wie man sich vorbereitet oder sonstwas, nein, die Ästhetik schreckt ihn. Diese blauen Trainingsanzüge, diese blassen Gesichter, diese blondierten Frisuren. Solche Bilder turnen ihn ab. Da schaut er sich lieber so etwas an. Er zeigt eine Adidas-Broschüre: weite Felder, in der Mitte ein Jogger. Eine Brücke in Großaufnahme, am Bildrand ein Jogger – eine Fotoauswahl halt, die so eindrucksvoll ist wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung.
Er ist ein Beispiel für die „Sportifizierung der Gesellschaft“, von der die Sportsoziologen sprechen: Siebzig Prozent aller verkauften Sportschuhe wurden nicht erworben, um damit Sport zu treiben. Er läuft zwar, seine Schuhe erfüllen also die ursprüngliche Funktion, aber seine Sportsachen gehören zum Schönheitsideal. So geht er ja auch zum Einkaufen. Aber im Wohngebiet läuft er immer noch nicht. Das widerstrebt ihm. Er will nicht beobachtet werden, wenn er mit seinem Körper etwas anstellt. Auf einer Wiese Gymnastik zu machen stört ihn mittlerweile nicht mehr. Auch dann nicht, wenn nur wenige Meter entfernt Jugendliche auf einer Bank sitzen.
Vielleicht ist der Park sportifiziertes Gelände: ein Ort, an dem nicht der Spaziergänger die kulturellen Standards setzt, sondern der Jogger. Aber im Wohngebiet, da gelten andere Normen. Da herrscht noch die Hegemonie des Fußgängers. Allgemein menschlich ist es garantiert nicht, Scheu zu haben, seinen Körper zu zeigen. Kindern ist es völlig fremd, und auch viele Erwachsene kennen solche Bedenken nicht. Aber er ist kein Einzelfall. Wenn ihm jemand zuruft, daß die Art, wie er läuft, völlig scheiße ausschaut, ist er verunsichert. Dann kann er in den nächsten Tagen nicht mehr in Ruhe laufen, ohne sich Gedanken zu machen, ob so ein Arschloch nicht vielleicht doch recht hat.
Er ist stolz darauf, das ihm Peinliche täglich zu überwinden, wenn er hinaustritt und läuft. Und wenn er läuft, dann ist er verletzlich. Er läuft in Berlin. Mal in der Hasenheide, also in Westberlin, mal im Treptower Park, also Osten. Im Westen läßt man Jogger kommentarlos passieren. Wenn er angequatscht wird, dann bloß im Osten. Einmal wollte ein Besoffener Feuer von ihm, einmal fuhr einer auf dem Rad neben ihm her und wollte wissen, wie man das nenne, was er da mache, Laufen wäre es ja wohl nicht. Individualisierungsschübe, von denen die Sozialwissenschaft schreibt, sind ihm nicht fremd. Und unsympathisch sind sie ihm auch nicht. Wenn er läuft, will er nicht angesprochen werden. Spaß muß sein, hat ihm der lustige Ostler zugerufen, als er wegradelte. Das meint er nicht.
Gemeinschaft ist ihm zuwider. In einem seiner Laufbücher steht: „Auch wenn ein Jogger – was ihm häufig vorgeworfen wird – während des Trainings selten lacht (er wird es, wenn es einen Grund gibt), so weiß er doch, daß seine schweißtreibende Mühe mit einer hohen Lebensqualität belohnt wird.“ Eigentlich wollte er ja nur nicht mehr rauchen. Und stolz ist er darauf, daß er noch nie Kopfweh bekommen hat, nur weil neben ihm jemand raucht.
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