„Bravo, ein toller Tag!“

Weil Berufskollege Marc Rosset dem Tod gerade noch von der Schippe sprang, zeigen sich die Tennisprofis bei den US Open überraschend mitgenommen  ■ Aus New York Thomas Hahn

An den Schweizer Marc Rosset hatte eigentlich keiner mehr gedacht am Morgen des vierten Tages bei den Offenen Amerikanischen Tennis-Meisterschaften in New York. Und schon gar nicht hatte man damit gerechnet, daß er noch mal im geräumigen Presseraum eins des US-Tennis-Centers auftauchen würde, um vor zahlreich versammelter Journaille Bericht zu erstatten. Ausgeschieden war er nämlich längst, in der ersten Runde gegen den Slowaken Dominik Hrbaty 6:7, 6:7, 5:7.

Doch plötzlich war er wieder da und hatte eine Geschichte mitge- bracht, die den gesamten Spielerzirkus ziemlich nachdenklich stimmte: Rosset hatte die Nacht vor dem Fernseher zugebracht und mit bangen Blicken die Nachrichten vom Absturz des Swissair-Fliegers nahe der kanadischen Küste verfolgt – in dem hätte er nämlich ursprünglich selbst sitzen sollen, um von New York nach Genf zu kommen.

„Manchmal wachst du auf“, erzählte Rosset, „und sagst, okay, ich fliege erst morgen statt heute.“ Und so war es auch am Dienstag: Nach seinem Aus am Montag hatte er gebucht, tags darauf fiel ihm ein, er könnte noch eine Trainingseinheit mit prominenten Kollegen auf den Hartplätzen von Flushing Maedows gebrauchen. Er diskutierte mit Trainer Pierre Simsol, sie kamen überein, stornierten den Flug. Und blieben am Leben.

Rossets Episode ist keine gewesen, die die Stars der Branche so ohne weiteres wegwischen. Der Spielbetrieb lief normal weiter, aber das Unglück und Rossets knappes Entrinnen blieben in den Köpfen der Spieler. „Das läßt keinen unberührt“, sagte der Österreicher Thomas Muster, nachdem er Wayne Black aus Zimbabwe 6:7, 6:4, 6:3, 6:0 besiegt hatte, „man redet halt drüber.“ Und Andre Agassi (USA), 6:3, 6:2, 6:7, 3:6, 6:1-Sieger über den Franzosen Guillaume Raoux, war sich sicher: „Es hat die Spieler getroffen.“

Und das war verständlich: Wirk- liche Niederlagen gibt es nicht mehr im Leben der Tennisprofis, außergewöhnliches Talent in ei- ner banalen Sache hat sie zu schwerreichen Leuten gemacht. Ihre Welt kennt keine Makel, es bleibt nur eine echte Angst: die vor dem Schicksal. Und weil es zu ihrem Job gehört, um die Welt zu jetten, ist der Flugzeugabsturz einer prominenten Linie für sie ein äußerst beunruhigendes Ereignis. „Es ist bestimmt eine der größten Ängste, auf eine Reise zu gehen und nicht mehr zurückzukommen“, sagte Agassi. Und der Amerikaner aus der Glitzerstadt Las Vegas, vielfach als oberflächlicher Lebemann abgetan, klang dabei sehr ernst.

Selbst der Weltranglisten-Ersten Martina Hingis, 17jährige Landsfrau Rossets, fiel auf, daß etwas passiert war, was durchaus auch ihre gepolsterte Existenz bedrohen könnte. „Ich fliege sehr viel mit Swissair“, sagte sie und grinste naiv, „ich bekomme da immer was Besonderes; die kennen mich.“ Davor hatte sie giggelnd kundgetan: Sie möge den Rosset zwar nicht, trotzdem habe der es nicht verdient, samt Flugzeug zu explodieren. Und sie verpaßte es auch nicht, Rosset medienwirksam zum Nichtabsturz zu gratulieren: als Rosset gesprochen hatte, stürmte Hingis in den Presseraum und gab Küßchen. Die Fotografen wurden rege, und ein Kameramann fluchte vernehmlich, weil Hingis schon zu Ende geküßt hatte, als er seine Linse auf das alpenländische Pärchen richtete.

Beklommenheit und Show lagen nah beinander an diesem Tag. Rosset immerhin, bisher vor allem wegen seiner Wutausbrüche bekannt, war sichtlich bedient. „Ich bin traurig wegen der Leute im Flugzeug“, sagte er, „und ich fühle mich ein bißchen glücklich, daß ich den Flug nicht genommen habe. Ein komisches Gefühl im Moment. Ich glaube, ich habe ein bißchen Angst. Wenn man realisiert: Du warst ganz nah dran am Tod.“

Selbst dem unermüdlichen Kämpfer Muster, den ein Autounfall 1989 selbst fast um seine Karriere gebracht hätte, war gar nicht behaglich zumute. Zu allem Überfluß hatte er nämlich auch noch mitbekommen, wie ein Zuschauer mit Herzattacke zusammenbrach. „Der ist ganz blau angelaufen“, sagte Muster, „da hab' ich mir gedacht: Bravo, ein toller Tag.“