: Tschernomyrdin setzt auf Wunderheilung
■ „Wirtschaftsdiktatur“ angekündigt. Duma verschiebt Abstimmung
Moskau (dpa/AFP/taz) – Rußlands designiertem Ministerpräsidenten Wiktor Tschernomyrdin bleibt eine Galgenfrist. Gestern verschob die Duma die eigentliche Abstimmung über den Regierungschef auf den kommenden Montag. Zuvor soll, auf Vorschlag von Präsident Boris Jelzin, ein runder Tisch erneut über die Kandidatur beraten. Für die Kommunisten gab der Chef Gennadi Sjuganow bereits die Marschroute vor: Sie würden auf keinen Fall von ihrer Position gegen Tschernomyrdin abrücken. Jelzin „muß die Kandidatur Tschernomyrdins zurücknehmen“, sagte Sjuganow. „Der wird mit seiner Aufgabe nicht fertig.“
Das sieht Tschernomyrdin anders. Gestern präsentierte er in der zweiten Parlamentskammer, dem Föderationsrat, Eckpunkte eines Wirtschaftsprogramms, das Rußland aus der Krise führen soll. „Faktisch bedeutet das, daß ab Januar kommenden Jahres der Staat zur Wirtschaftsdiktatur übergeht. Das Eigentum der notorischen Steuersünder wird automatisch verstaatlicht werden“, sagte Tschernomyrdin.
Bis Ende des Jahres werde der Staat 35,9 Milliarden Rubel (etwa 9,7 Milliarden Mark) für Renten, Löhne und andere Aufgaben bereitstellen. Für die Begleichung der Schulden bei Rentnern würden 20 Milliarden Rubel, für Lohnschulden 12,5 Milliarden Rubel und der Rest für andere soziale Aufgaben aufgewendet.
Diese Finanzmittel sollten durch die Erhöhung der Devisenreserven der Zentralbank und durch die „kontrollierte“ Emission von Rubeln aufgebracht werden, sagte Tschernomyrdin. Dies bedeute den Übergang zu einem flexiblen, vom Markt bestimmten Rubel-Kurs zum Dollar. Die Geldmenge solle aber an den Umfang der Gold- und Devisenbestände der Zentralbank gebunden werden.
Tschernomyrdins Wunderprogramm ruft nicht nur bei einheimischen Experten Kopfschütteln hervor. Wie er den Rubel an Gold- und Devisenreserven anbinden, gleichzeitig aber mit einer kontrollierten Erhöhung der Geldmenge die Staatsschulden begleichen will, bleibt rätselhaft. Ognian Hishow, Wirtschaftsexperte beim Kölner Institut für ostwissenschaftliche Studien, meint dazu in einem Interview mit der taz: „Wenn er beides fordert, versteht er nichts davon. Oder er unterstellt den Mitgliedern der Duma, daß sie nichts davon verstehen.“ Tagesthema Seite 3
Interview Seite 8
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