Geschenktes Leben in zerbombten Städten

■ Tage der Ohnmacht und die Ohnmacht der Diskurse: Dieter Forte setzt auf Geschichten, um Geschichte zu schreiben, und zeigt, wie „Trümmerliteratur“ heute noch funktionieren kann

Mai 1945. Kriegsende. Befreiung und Auf-zu-neuen-Ufern, wo den Deutschen, wie Ludwig Harig in seinem autobiographischen Roman „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“ schrieb, ein „zweites Leben geschenkt“ wurde. Das ist die eine Seite. Auf der anderen, der dunkleren Seite jedoch galt es, die beschwerlichen Trümmerjahre bis zur Währungsreform, eine Existenz in zerbombten Städten, Hunger und Not zu bestehen. Dazwischen lagen die Aufräum- und Aufbauarbeiten, die kleinen Geschäfte und größeren Gaunereien, die ständigen Gratwanderungen zwischen wackerem Hoffen und Enttäuschungen: „Überlebenspläne des Tages“ wechseln mit „Tagen der Ohnmacht“ ab.

Man glaubt, das alles genau zu kennen, bereits vielfach gelesen zu haben, in Romanen und Erzählungen aus der Frühzeit der Gruppe 47, bei Böll oder Schnurre, in Beschreibungen eines von Böll 1952 als Trümmerliteratur bezeichneten, offensiv vorgetragenen realistisch-humanistischen Programms: „Wir schrieben also“, so Böll damals, „vom Krieg, von der Heimkehr und von dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern.“

Wie ein ferner Nachhall auf Bölls großes Thema, ohne allerdings dessen utopisch-optimistische Züge zu übernehmen, klingt Dieter Fortes Roman „In der Erinnerung“. Dieser autobiographisch fingierte Text bildet den dritten, abschließenden Teil einer Romantrilogie, die den verwickelten und verzwirbelten Lebensschicksalen der beiden Familien Lukácz und Fontana, Landarbeiter und später Bergleute aus Polen die einen, Seidenspinner aus Italien die anderen, über viele Jahrhunderte und Generationen hinweg folgt. Im ersten Band („Das Muster“, 1992), rekonstruierte Forte im Zeitraffer den Weg der beiden Familien bis zum Zusammentreffen im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk. Im zweiten Teil („Der Junge mit den blutigen Schuhen“, 1995) beschrieb er – mit gehöriger Zeitdehnung – den Faschismus und die Kriegsjahre aus der Perspektive „von unten“, in alltäglichen Geschichten.

Nun ist er im Nachkriegsdeutschland angekommen, und auch hier ist die bestimmende Perspektive die Alltäglichkeit, eine Perspektive, die Forte in poetologischen Bemerkungen begründet, ja sogar leitmotivisch in einer Formulierung wie „Erinnerungsbilder“ als Poetik der Erinnerung durchdekliniert. Das unterscheidet diesen Roman grundsätzlich und durchaus wohltuend von zwar ebenfalls realistisch inszenierter, dabei aber immer auch ethisch hochgerüsteter und manchmal ideologisch drapierter Prosa aus dem Umkreis der Gruppe 47. Wahlverwandtschaften zum jüngst verstorbenen Hermann Lenz und seinen Eugen-Rapp-Geschichten lassen sich da schon eher entdecken, wenn Forte sich Zeit und ausführlichen Raum nimmt, intensiv Erinnerungsbilder des Jungen (und nachmaligen Erzählers) auszustellen: mal als Standfotos von „Skeletten der Häuser“, der Ruinenlandschaften und dem Zuhause in Trümmern, dann wieder in beschleunigter Form, wenn die Aktivitäten der Menschen im Überlebenskampf gezeigt werden.

Eingestreut – und das versteht Forte meisterhaft, weil die Abschweifungen niemals ausufern, sondern den Hauptstrom des epischen Erzählflusses illustrieren – sind viele kleine Geschichten, reizvolle Erzählungen. Dieses Schreibprinzip ist dem Glauben an eine in Geschichten verstrickte Geschichte geschuldet. Forte geht davon aus, daß erst Geschichten – und nur Geschichten – Zeit erschaffen und daß sich erst durch das Erzählen „eine einzige, endlose, sich wiederholende Geschichte“ ergeben kann. Er verhilft der Erzählung zu einem späten Triumph, weil allein sie der Ohnmacht der Diskurse der nach dem Terror makulierten „vernünftigen, klugen, erhellenden Gedanken auf dem Papier“ widersteht.

Dieter Forte gelingt das mit Bravour. Mit seiner Trilogie hat er sich an die Seite anderer epischer Monumentalprojekte wie eben Lenz' Rapp-Romane oder Harigs autobiographische Bücher geschrieben. Werner Jung

Dieter Forte: „In der Erinnerung. Roman“. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1998, 251 Seiten, 39,80 DM