: Haiti und der wundersame Zufall
■ „Windpassage“ – ein Porträt Haitis aus Geschichte, Reisebeschreibungen und Erzählungen
„Unterwegs nach Gonvaives. La Croix-des-Missions, Cabaret, L'Arcahaie, Corail... Strohgedeckte Häuser, Fischerboote, brachliegendes Land, kleine Märkte, einzelne Sprenkel schwarzer Schweine. Die Beaches Kyona, Kaliko und der Club Med verlassen und leer ... Délugé... Und dann Saint-Marc, wo die Steine sich häufen, wo der Strand zur Kloake wird...“
Unterwegs in Haiti war der Dichter und Journalist Éric Sarner. Er sucht die Begegnung mit einem niedergeschlagenen Land, vor allem aber sucht er den Kontakt zu Freunden, Bekannten und Hinterbliebenen von Jacques Stephen Alexis. Der aus Haiti stammende Arzt und Schriftsteller Alexis kam 1961 nach Haiti zurück. Er wollte die Insel von der Schreckensherrschaft Duvaliers befreien. Man hat ihn nie wieder gesehen, sein Verschwinden wurde nie aufgeklärt.
In Gesprächen und Besuchen bei Bekannten von Alexis nähert sich Sarner bei seiner Reise 1990 dessen Schicksal. Aus der Suche nach dem Vermißten wird eine sensible Annäherung an Haiti. „Windpassage“, so der Titel des Buches, heißt die Meerenge zwischen der kubanischen und haitianischen Küste. Von Kuba setzte auch der Revolutionär Alexis nach Haiti über.
Sarners Reise nach Haiti entrollt einen Flickenteppich der Inselgeschichte aus alten Quellen, Literatur und Zeitungsausschnitten: „Als Duvalier 1957 auf der politischen Bühne erschien, hatten die Woodoo-Initiierten schon mehr als fünfzig Jahre auf sein Kommen gewartet... Man wußte, daß es in dieser Zeit ein blutiges und teuflisches Regime geben würde“, schrieb der Haiti Observateur 1977.
Woodoo und Geistergeschichten, Märchen und Erzählungen – Sarner saugt sie auf, schreibt sie nieder und entwirft ein vielschichtiges Porträt Haitis, eine Mischung aus Geschichte, aktueller Reisebeschreibung und Wundersamem. Sarner läßt den Geheimnissen dieser traurigsten Insel der Erde ihren Raum. Mit den Worten Alexis' im Gedächtnis: „Das Wunder ist das Gewand, in das manche Völker ihre Weisheit und ihre Lebenserfahrung kleiden... Es ist die Wirklichkeit, in der ich die Erkenntnis gewonnen habe, daß der wundersame Zufall ein fester Bestandteil des haitianischen Realismus ist.“
Sarner läßt sich ein auf diesen Realismus: „Was die Zombies angeht“, notiert er, „weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Ich warte ab. Zu allem bereit. Die Bewegung ist das Wichtigste.“ Und diese Bewegung mit Sarner ist abenteurlich und überraschend, unkonventionell und facettenreich. Ein spannendes Reisebuch.
Edith Kresta
Éric Sarner: „Windpassage – eine Reise nach Haiti“. Stuttgart 1998, 236 Seiten, 38DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen