Männerbünde auf Kokain

Beim Filmfest in Venedig geht es wie an einer mächtigen Tafel voller Speisen zu. Am Ende stellt sich nur noch eine Frage: Welche Köche tragen die Preise davon?  ■ Von Brigitte Werneburg

Fördert ständiges Filmeschauen das Träumen? Noch nie habe ich soviel geträumt wie hier in Venedig. Interessanterweise kenne ich mich in meinen Träumen schon aus und bin mir beim Erwachen auch stets sicher, den Traum schon zum zweiten oder dritten Mal geträumt zu haben.

Auch Emir Kusturica träumt nach „Time of the Gypsies“ seinen Traum zum zweiten Mal als „Black Cat, White Cat“. Dafür wird er jetzt der „Fellini der Zigeuner“ genannt. Für seine grelle Groteske über die Verhinderung einer arrangierten Hochzeit und die Förderung einer Liebesheirat würde er freilich treffender als der pedantische Denkmalschutzbeauftragte der Sinti und Roma bezeichnet.

„Lustig ist das Zigeunerleben“ heißt das Vehikel, das er in seiner altbekannten Form restauriert hat, das er dafür – das muß man zugeben – mit Bedacht auseinandergenommen, mit teils wundervollen Einfällen geschmiert und dann wieder zusammengesetzt hat, so daß es nun einwandfrei läuft. Zu klein geratene Mädchen tippeln als Baumstumpf im Wald herum, um in einem baumlangen Kerl den Mann des Lebens zu finden, böse Gangster versinken in der eigenen Scheiße, alte Patriarchen sehen sich ständig „Casablanca“ an und dazu spielt die Musik, die an dicken Bäumen festgeseilt ist. Und am Ende fühlt man sich schwindelig wie beim Kindergeburtstag.

Das ist nun ein Filmfest, im Ganzen gesehen, nicht. Es ist, was der Name sagt, ein Fest und da wird schwer getafelt und aufgetragen. Hier in Venedig gleich so viel, daß man als alleinige Berichterstatterin („Protest, Protest“, protestiert der Geist) mit dem täglichen Turnus ganz schön ins Schleudern kommt. Es kam also Leichtverdauliches auf den Tisch, und die eine oder andere Köstlichkeit, viele Gänge, vielleicht zu viele, mußte man einfach überspringen, während wiederum andere, auf die man sich gefreut hatte, enttäuschten. Und dann fragt man sich, was wohl die Höhepunkte des Festes waren, welche Köche die Preise davontragen werden, und wer uns eigentlich mit dem schweren Kopf zurückließ?

Bestimmt Abel Ferrara, der zur Zeit mit seiner Entourage (die er durch den Tausch seines First- Class-Tickets in sechs Economy- Flugscheine einschleppte) im Excelsior residiert. Dabei könnte „Newromancer“, William Gibsons Kurzgeschichte über Industriespionage und das geplante Kidnapping eines Wissenschaftlers, die Vorlage für ein raffiniertes Kino liefern, das einen Actionfilm im ausschließlichen Bereden der Aktion destruiert.

Die Schauspieler dafür hatte Ferrara, doch er ließ Christopher Walken und William Dafoe gnadenlos im Stich. Besonders Walken eiert dermaßen in seiner Rolle herum, daß der Stock, an dem er geht, zum Sinnbild wird. Mit einem exzellent geführten Schauspielerensemble trumpft dagegen Anthony Drazans „Hurlyburly“ auf. Der rasante Kokainkonsum im Film könnte freilich dazu führen, nur die Dekadenz und nicht das aufschlußreiche Porträt einer Männerfreundschaft zu sehen. Zur sadomasochistischen Faszination zwischen Eddie und Phil – von Sean Penn und Chazz Palminteri sehenswert durchexerziert – spielt Kevin Spacey, als dritter im Bunde, den kühl sarkastisch kommentierenden Basso Continuo.

Im Verlauf des Festivals, so scheint es, bildeten sich gewissermaßen Fimpaare heraus. Was an Woody Allens Beziehungskisten- bla-bla-bla zu harmlos ist, findet sich dann in den sardonisch-geschliffenen Theaterdialogen von David Rabe wieder, der die Vorlage zu „Hurlyburly“ lieferte. Oder was Francesca Archibugi bei ihren allzu tapferen Kindern unterschlägt, zeigt eben Larry Clark in „Another Day in Paradise“ – das verzweifelte Verlangen selbst noch von Jugendlichen, den stets enttäuschenden Eltern doch zu vertrauen. Larry Clarks Familie aus zwei drogensüchtigen Kids und einem drogensüchtigen Diebespaar ist allerdings eine Wahlverwandtschaft. Eine von vornherein fragile Gruppierung, deren Entstehen und Zerbrechen er in bemerkenswert präzise beobachtete Bilder faßt. Das krude Draufhalten – und das ist am Ende doch ein Verlust – von „Kids“ ist das nicht mehr.

Und noch ein Filmpaar: Pat O'Connors „Dancing in Lughnasa“ und Gianni Amelios „Cosi ridevano“. Was dem einen die fünf Schwestern sind, die 1936 in Irland ihren Bruder aus Afrika zurückerwarten, ist dem anderen das sizilianische Bruderpaar, das in den frühen sechziger Jahren nach Turin emigriert. Folklore mischt sich mit Politik, Folklore ist Tradition, ist Politik, vor allem Familienpolitik, die den industriellen und gesellschaftlichen Veränderungen freilich nicht mehr standhält.

Nur der Starrsinn im einen und der Wahnsinn im anderen Fall hält die Geschwister unter den herkömmlichen Regeln der so wenig solidarischen Solidargemeinschaft fest. Es ist einfacher, sich in Pat O'Connors Erzählduktus hineinfallen und sich von ihm nach Irland forttreiben zu lassen, als Amelios schwerfälliger Montage zu folgen, die je sechs Tage über sechs Jahre hinweg aneinanderknüpft. Er hätte noch stärker auf die Abstraktion von jedem neorealistischen Dokumentarismus, die seinen Film auszeichnet, setzen und die Bilde weiter verdichten müssen.

Das unaussprechliche Wort, das im letzten Wettbewerbsfilm, nämlich Warren Beattys „Bullworth“, ausgesprochen wird, kommt auch bei Amelio nicht vor. Es heißt Sozialismus. Das Gegenteil von Sozialismus nennt sich US-amerikanische Innen- und Gesellschaftspolitik und Beattys Senator Jay Billington Bullworth spricht über deren Funktionsweise Klartext: „Ich bin ein reicher Typ, ihr seid reiche Typen, und alles was wir tun und sagen, dient doch dem Wohl von uns reichen Typen, oder liege ich falsch?“ Nein, er liegt richtig, und deshalb ist „Bullworth“ ein komödiantischer Schocker. Er ist kein Meisterwerk, doch was macht es, daß Beatty nicht der geborene Filmemacher oder Drehbuchautor ist, daß der Plot von „Bullworth“ Löcher hat oder das Timing nicht wirklich stimmt, wenn er erfreulicherweise einmal unverblümt ausspricht, was angeblich alle Amerikaner wissen, sich aber – vor allem in der Mittelklasse – nicht zu glauben getrauen?

„Bin ich schön?“, fragte gestern schließlich Doris Dörrie – außer Konkurrenz (was bei dieser Frage nun schon gar nicht gilt, mault der Geist, um gleich anzufügen, sie sei ganz schön schön. Nicht ganz so schön wie Melanie Griffith, die er auf der Pressekonferenz fürchterlich anhimmelte und über deren Haare er anerkennend äußerte, sie seien genauso zerfranst wie die meinen). Doch, Dörries Short- Cuts-Kino ist auf seine Weise unbedingt ein gelungener Film. Auf seine Weise läßt sich kurz und bündig vielleicht so erklären: Dörries Kurzgeschichten, auf denen „Bin ich schön?“ basiert, kann man in Brigitte lesen, aber auch im New Yorker. Sie sind eben downtown, oder anders gesagt, urban. Der deutsche Film sieht also hier in Venedig in seinen zwei Beispielen wirklich gut aus. Sicher besser, als er in seiner Jahresproduktion ist. Wenn man dagegen etwa an die italienischen Filme denkt, dann hätte hier eine striktere Auswahl nicht geschadet. Wie überhaupt etwas weniger mehr gewesen wäre, auf der Filmfesttafel am Lido.