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Lange nichts als Zucken

■ Tanz, Gesang, Gitarre, Goldzahn: Carlos Sauras „Flamenco“ konzentriert sich aufs Wesentliche. Ein Film für Aficionados

Von außen betrachtet gehört er zu Spanien wie Paella, Sonne, Stierkampf und Sangria. Im Flamenco, so will es die Folklore, bündeln sich so urspanische Eigenschaften wie Leidenschaft, Stolz, Ehrgefühl. Gerne wird er deswegen in Erzählungen von bedingungsloser, aber verbotener Liebe gebettet, in Geschichten von Blutrache und Messerkampf, von Eros, Tod, Archaik. Als Souvenir in Gestalt eines Fächers gelangt er ins heimische Wohnzimmer, als Tanzkurs, vor Ort absolviert, in die Vita distinktionsbewußter Traveller. Und als spanischer Ausruf mit drei Buchstaben in jedes Kreuzworträtsel: olé.

Carlos Saura hat damit wenig zu tun. Seit fast vierzig Jahren macht er Filme, die ersten 15 Jahre davon saß ihm die Zensur im Nacken, brauchte er Metaphern, Parabeln, Verfremdungen, um etwas über das Land im Schatten Francos zu sagen. Später wandte er sich, selbst in der nordspanischen Provinz Aragón geboren, dem Süden des Landes zu, schuf mit „Bluthochzeit“ (1980), „Carmen“ (1983) und „Liebeszauber“ (1985) eine Trilogie, die den Flamenco in den Mittelpunkt rückte. Auf die Erzählung drumherum wollte Saura damals noch nicht verzichten. Die Folie von der Liebe, dem Verrat und dem Messer schmiegte sich um die Tanzszenen. Die immerhin waren um Kostümbombast und folkloristische Settings erleichtert. Und Saura operierte geschickt mit Rahmen- und Binnenhandlung, so daß, was an Archaisch-Exotischem aufblitzen mochte, gleich zurückgebunden wurde an eine Moderne, wie sie für Andalusien zu Beginn der achtziger Jahre charakteristisch war.

Und jetzt kommt – mit dreijähriger Verspätung – „Flamenco“ in die hiesigen Kinos. Hier nun hat sich Saura von jeder Erzählung gelöst. Nahezu dialogfrei vergehen 100 Minuten mit Tanz, Gesang und Gitarre. 20 bald traditionelle, bald avantgardistische Spielarten des Flamenco werden vorgestellt, etwa 90 Künstler und Künstlerinnen – unter ihnen so namhafte wie Ketama, Lole y Manuel, Joaquin Cortés – machen mit, Schauplatz ist ein stillgelegter Bahnhof in Sevilla. In der ersten Szene tastet sich die Kamera durch die 100 Jahre alte Industriearchitektur, fährt an Ziegelsteinmauern, Stahlträgern und Glasscheiben vorbei, um schließlich an einem Mosaikfenster innezuhalten. „Der Flamenco“, sagt eine Stimme aus dem Off, „entstand in Andalusien Mitte des 19. Jahrhunderts als Folge der Vermischung von Völkern, Religionen und Kulturen, die eine neue Musikform hervorbrachte. Griechische Kastagnetten, mozarabische Volkslieder, gregorianische Gesänge, kastilische Liebeslieder, jüdische Klagelieder, die Musik der Schwarzen und der Rhythmus der Zigeuner, die aus dem fernen Indien kamen, verschmelzen zu dem, was wir heute ,Flamenco‘ nennen“.

Das muß reichen als Programm. Die Kamera hält sich zurück, ein paar Stellwände und ab und zu ein Spiegel verwandeln den einstigen Bahnhof in eine so variable wie spärlich bestückte Bühne, auf der Platz für viele eindrucksvolle Auftritte ist. Für Joaquin Cortés zum Beispiel. Die Kamera heftet sich an seine Stiefel, zeigt lange nichts als deren Zucken. Für Belén Maya, die mit streng zurückgebundenem Haar und einem schlichten Kleid zum Stampfen der Absätze tanzt. Für eine ältere Tänzerin, deren Wangen im Rhythmus ihrer Füße nachbeben. Für Agujeta, einen älteren, hageren Mann, der davon singt, wie ihn die Geliebte verlassen hat. In einer Großaufnahme erscheint sein Gesicht, die Kamera blickt ihm in den Mund hinein, seine Goldzähne leuchten auf, und man glaubt ihm aufs Wort, wenn er behauptet, vor Schmerz fast irre zu werden.

Irgendwann hört man aus der Ferne ein Hupen, später bewegt sich die Kamera ein zweites Mal auf das Mosaikfenster zu, Stadtgeräusche legen sich über Gesang und Gitarre. Dann ist es vorbei. Wer jetzt kein Aficionado ist, der wird es nicht mehr werden. Cristina Nord

„Flamenco“. Regie: Carlos Saura. Mit: Joaquin Cortés, Paco de Lucia, Lole y Manuel, Chocolate u. a., Spanien 1995, 98 Min., OmU

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