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Die „Standards“ von Blackpool

Zum vorerst letzten Mal versammelt sich die Labour-Partei an ihrem historischen Tagungsort. Die Zeit des Wallfahrtsorts der britischen Arbeiterklasse geht zu Ende  ■ Aus Blackpool Dominic Johnson

Als der Mann von Speedy Space ins Büro kommt und wissen will, wo er seine mobilen Klohäuschen hinstellen kann, wird es Susan Rossall zu bunt. „Lassen Sie Ihre Klos eben draußen“, herrscht die Empfangsdame der Winter Gardens den freundlichen grauhaarigen Mann an, der verlegen lächelt, wenn er den Namen seiner Firma aufsagt. Seit drei Tagen herrscht im zukünftigen Tagungsort der britischen Labour-Partei das reine Chaos. Schließlich zieht Speedy Space davon, Susan Rossall hebt die Hand hoch über den Kopf und stöhnt: „Mit steht es bis hier!“

Der Einzug von New Labour in die Winter Gardens im nordwestenglischen Blackpool gleicht einer Kulturrevolution. Der gigantische, verwinkelte, verschnörkelte und grandiose Ballhauskomplex voller Tanzsäle, Theaterräume und prächtiger Wandelgänge wird für eine Woche in ein hypermordernes Konferenzzentrum verwandelt. Wo sonst Rentner zu romantischen Liedern aus dem Zweiten Weltkrieg das Tanzbein schwingen, planen dann Yuppies vor Computerbildschirmen das 21. Jahrhundert. Und wenn die Volkspartei kommt, muß das Volk weichen. In immer mehr Korridoren steht in rot „Labour 98“, was bedeutet: kein Zutritt.

Blackpool und Blair – das paßt schlecht zusammen. Blackpool ist Old Labour auf Urlaub. Blackpool ist das beliebteste Seebad Großbritanniens. Blackpool ist zehn Kilometer Strandpromenade, auf denen sich an guten Wochenenden halb England und ganz Schottland zu drängen scheinen. Vor Frittenbuden mit Plastikstühlen unter bunten Straßengirlanden stehen die Leute zehn Meter Schlange und gehen hinterher in den Nachtklub. In Ramschläden stapelt sich Glitzerzeug, Billigkleidung, klebriges Süßes, dazu Becher mit unzeitgemäßen Sprüchen wie „Die Arbeit ist hart, der Lohn ist klein, ich nehme mir Zeit, und die können mich mal“. Es gibt gigantische Spielhöllen und Amüsierparks mit Riesenrädern und Geisterbahnen und Achterbahnen und „echten Zigeunerfrauen“, die einem aus die Hand lesen.

Und vor allem gibt es in Blackpool eine treue Klientel, größer als die Wählerschaft von New Labour: 17 Millionen Besucher im Jahr, zum Teil seit Jahrzehnten Stammgäste, das richtige „Old Labour, Old Britain“: von harter Arbeit gezeichnete Leute, denen man ansieht, daß sie zu keinem anderen Urlaub mehr die Kraft hätten, konservativ, konformistisch und eigensinnig zugleich. Alle suchen sie dieselben vertrauten Fluchtorte, drei Tage ungezügelte Freiheit unter ihresgleichen. Blackpool bietet das, was New Labour zu bieten nur behauptet: Sicherheit in einer Welt des Wandels.

Zur Tradition von Blackpool gehört seit 1927, daß Labour brav alle zwei Jahre zum Parteitag in die Winter Gardens kommt. Aber vergangenes Jahr verkündete die Partei, Blackpool sei erledigt. 1998 ist das vorerst letzte Mal. Im Jahr 2000 bleibt Labour in Brighton, dem kosmopolitischen Badeort an Englands Südküste. Seitdem fühlt Blackpool sich verlassen. Denn nicht nur Labour geht. Die Gewerkschaften, bisher ebenfalls solide Freunde, bleiben nächstes Jahr mit einer Ausnahme weg. 1999 gibt es nur noch zwei Großereignisse in dieser Stadt: der Parteitag der oppositionellen Konservativen, die naturgemäß jetzt ihr Herz für Blackpool entdecken, und ein internationales Zauberertreffen.

Zwischen rotem Plüsch, vergoldetem Stuck und glitzernden Kronleuchtern ist kein Platz mehr für die Partei Tony Blairs. Zu diesem letzten Rendezvous mit Blackpool verschmäht Labour sogar das ähnlich pompöse „Imperial Hotel“, wo sonst immer die Parteiführung absteigt, und zieht zwei Blocks weiter in das „Stakis Hotel“. Ein roter Ziegelklotz mit der Ausstrahlung eines Hochsicherheitstraktes erhebt sich aus einer Betonsenke mit versteckten Eingängen, getrennt von der Nachbarschaft durch sterile Rasenflächen. Drumherum verläuft ein hoher Metallgitterzaun mit roten Schildern, auf denen steht: „New Labour, New Britain“.

Es steht zu befürchten, daß Labour nach Blackpool erst dann zurückkommt, wenn die ganze Stadt so aussieht. „Die Winter Gardens sind ein wunderschönes Gebäude, aber sie haben Probleme“, erkennt Mike Chadwick, im Stadtrat für Großereignisse zuständig. „Bei einer Tagung wollen die Leute einen großen leeren Raum, dem sie ihre Identität aufdrücken können. Aber die Winter Gardens sind schon voller Dekoration.“ Der Stadtrat ist der große Verlierer von Labours Rückzug, denn bisher pachtet er die Winter Gardens für eine Million Pfund im Jahr vom Privateigentümer und stellt sie Tagungsgästen kostenlos zur Verfügung, in der Hoffnung, die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Wenn niemand kommt außer Tories und Zauberern, klappt das nicht.

Also weg mit dem Stuck? Seit Anfang September haben die Winter Gardens einen neuen Eigentümer, dem solche Pläne nachgesagt werden: Der Vergnügungskonzern „Leisure Parcs“, der den bisherigen Besitzer „First Leisure“ sowie die auch in Deutschland bekannten „Center Parcs“ geschluckt hat und jetzt alle wesentlichen Freizeitattraktionen Blackpools besitzt. Die Marketing-Verantwortliche Mieke van Ninen, eine resolute Holländerin, macht nicht den Eindruck, als sei sie über Labours Rückzug unglücklich. „Labour geht ja gar nicht unbedingt weg“, erklärt sie und führt aus, auf dem Parteitag würden Fragebogen darüber verteilt werden, wie man das Gebäude „verändern“ könnte. „Labour macht für uns die Recherchearbeit, also ist das gut.“

Labour als Subunternehmer eines Freizeitkonzerns? Eher andersrum: Angestachelt durch die Regierung, soll die Privatwirtschaft Blackpool umkrempeln. „Es sind nicht einfach die Winter Gardens“, stellt Mieke van Ninen klar. „Es ist das ganze Ambiente.“ Ihr Mitarbeiter Brian Crompton sagt: „Erstaunlich unterschiedliche Leute finden Blackpool eine faszinierende Stadt. Aber heute suchen Leute Qualität und hohe Standards. Man muß den Standard fortwährend verbessern, und eine Kritik an Blackpool ist, daß der Standard gleich geblieben ist.“

Den 17 Millionen Besuchern, die gerade das Immergleiche suchen, wird diese Erkenntnis vermutlich neu sein, aber sie werden nicht gefragt, genausowenig wie die Stadtverwaltung. Dem Stadtrat bleibt gegenüber Labour nur noch die Bittstellerposition.

Die erste Konfrontation zwischen Old und New Labour findet zwei Tage vor Parteitagsbeginn statt, als eine Delegation des „Social Exclusion Unit“ Blackpool besucht. Diese im vergangenen Dezember gegründete Expertengruppe, direkt dem Premierminister unterstellt, soll Richtlinien zur Armutsbekämpfung erarbeiten, und jetzt tourt sie durch das Land auf der Suche nach förderungswürdigen Pilotprojekten. Damit für Blackpool etwas dabei herauskommt, hat der Stadtrat eine Werbemappe zusammengestellt, die alle nur erdenklichen Probleme der Stadt auflistet. „Eine Stadt mit goldenem Image, aber einem hohen Ausmaß an Benachteiligung“, steht da. „Wir geben soviel für Wohlfahrt aus wie für Bildung.“ Kieran Walsh, Projektleiter einer Wohlfahrtsgruppe, führt aus: Blackpool zieht zu Tausenden Saisonarbeiter an, die wenig Geld kriegen, in prekären Verhältnissen leben und das halbe Jahr nichts zu tun haben.

Sichtlich geschockt stolpern die Besucher aus London durch ein ehemaliges Hotel nur wenige Straßen vom protzigen „Stakis“-Komplex entfernt, das der Eigentümer mit sozial schwachen Dauermietern füllte und verkommen ließ. Nach sieben Drogentoten, einem Mord und einem Feuer wurde das Gebäude im Juli polizeilich geschlossen. Im beißenden Geruch von Desinfektionsmitteln schiebt sich die Delegation durch verrußte Flure und Gemeinschaftsküchen voller Gerümpel, vorbei an winzigen Zimmern, in denen manchmal noch Bettwäsche neben verfaulenden Möbelstücken liegt. Bis zu 5.000 der 150.000 Einwohner Blackpools, erläutert der dem linken Labour-Flügel zuzurechnende Wahlkreisabgeordnete Gordon Marsden, leben in solchen Verhältnissen.

Der gemeinnützige Verein „Manchester Methodist Housing Group“ will das Haus demnächst kaufen und in Wohnungen zu Niedrigmieten umwandeln. Vereinsleiter Stephen Porter führt die Besucher als nächstes in sein Vorzeigeprojekt einige Straßen weiter: Adrette Häuserfronten mit sauberen Wänden, blitzblanken Haustürklinken und sicheren Klingelanlagen an einer Stelle, wo bis 1997 zerfallende Slums voller Ratten standen. Da zwängen sich nun ein halbes Dutzend Leute in die makellose winzige Zweizimmerwohnung einer völlig überwältigten alten Dame, und Liz Walton vom „Social Exclusion Unit“ bricht in Entzückensschreie aus: „Sogar ein richtiges Badezimmer! Die machen aber viel, nicht wahr!“

Das ist New Labour: Die Regierung hilft energischen Gemeinschaftsaktivisten, hilflose Leute aus dem Dreck zu ziehen und sie in Umgebungen zu setzen, wo sie für sich selber sorgen können. Aber hilft das solchen Leuten wie dem 16jährigen, von dem Kieran Walsh erzählt, der aus der elterlichen Wohnung in Manchester flog und, getrieben von seinen einzigen schönen Kinderurlaubserinnerungen, nach Blackpool driftete, wo er schließlich krank und drogensüchtig in der Notaufnahme endete?

Es hilft – aber erst dann, wenn Blackpool seine „Standards“ angehoben hat, wenn keine mittellosen Jugendlichen mehr auf der Suche nach Träumen hier stranden, wenn die Stadt nicht mehr voller gebrechlicher schottischer Rentnertouristen steckt, wenn der Stadtrat nicht mehr um Tagungsgäste betteln muß und wenn New Labour wieder zurückkommt. Bis Ende dieser Woche, solange der Parteitag läuft, wird dieses „New Blackpool“ schon einmal ausprobiert – ein Blackpool, wo die Kneipenküche italienisches Essen und mexikanisches Bier serviert und wo man an der Straßenecke die Financial Times kaufen kann und wo anstelle der von der Polizei entfernten Bettler in der Fußgängerzone improvisierte Stoffpuppen aus mit Zeitungspapier ausgestopften Pullovern und Hosen liegen, als letzter stummer Protest gegen die neue Zeit.

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