: Der Marsch des Sommers
■ Natur pur: Das philharmonische Staatsorchester, GMD Günter Neuhold, Chor und Solisten führten den Musikfreund mit Mahlers 3. Sinfonie aus dem Winter ins Meer der Liebe
Fast zeitgleich mit dem Herbstbeginn präsentierte uns die Philharmonische Gesellschaft in der Glocke die 3. Sinfonie von Gustav Mahler. Eine einfühlsame Wahl, denn Mahlers programmatische und alle Konventionen sprengende Mammutsinfonie gab dem vom letzten Bremer Sommer gezeichneten Musikfreund Gelegenheit, einmal in diesem Jahr zu erfahren, was ein richtiger Sommer sein kann und was er bewirkt, denn sie handelt vom Ausbruch des Sommers und von dem, was dann passiert.
Bei Mahler ist der Sommer nicht einfach nach dem Frühling irgendwie da. Er marschiert mit mächtiger Heerschar ein. Die braucht er auch, denn es gilt den Winter niederzuringen, der da unbeweglich und düster, die Lebensgeister lähmend offenbar schon mehr als ein Jahrzehnt schwarz auf dem Land lastet. Er wird frech, lustig und keck attackiert. Sein mächtig düsteres Aufbäumen erfordert jedoch andere Mittel. Er weicht erst den gewaltigen Streichen des Bläserapparates und den präzis gesetzten Schlägen des Schlagzeuges. Mit offenem Mund und gepeinigtem Trommelfell verfolgt der Musikfreund das titanische Ringen zwischen Stillstand und Bewegung und hört mit wachsender Spannung, wie alle Gruppen des Orchesters – von Aufbruchsstimmung erfaßt und neuen Ufern zustrebend – den ersten Satz triumphal zum Abschluß bringen. Nur mühsam kann er von engagiertem Mitpfeifen abgehalten werden.
Nach diesen ersten 40 Minuten mag man sich fragen, ob der Kraftaufwand eigentlich gelohnt hat, denn anschließend erzählt uns der Komponist nur noch von Pflanzen, Tieren, vom Schlaf, von Glocken und von der Liebe. Die Frage allerdings ist mit einem entschiedenen Ja zu beantworten, denn erst die glückhaft abgeschlossene Kraftanstrengung macht uns offen für Farbe und Duft der Blumen – auch seltene und schützenswerte sind darunter, für das lustig-schmerzhafte Treiben des Getiers im noch zu rettenden Walde und für das Posthorn, das so schön niemals vorher durchs Tal hallte. Wir tauchen bereitwillig mit Nietzsches Zarathustra, dem wir ansonsten ungern folgen, in die tiefsten Tiefen der Mitternacht, befreit lachend trösten wir reuige Sünder und verlieren im hymnischen, nicht enden wollenden Finalsatz uns ergriffen im allumfassenden Meer der Liebe. Wenn es auch kein richtiges Leben im Falschen gibt, so lernen wir doch in knapp 2 Stunden, daß es doch ein richtiges Leben gibt, wenn nur die Sonne scheint.
GMD Günther Neuhold und das Philharmonische Staatsorchester stellen sich der Herausforderung mit großem Ernst und dem zwingend erforderlichen Vergnügen. Neuhold setzt auf Klarheit und verdeutlicht selbst im größten Getümmel die polyphone Grundstruktur Mahlerscher Musik. So entsteht nie der schwammig aufgeblasene Klangbrei, der spätromantische Musik so schwer verdaulich macht. Die ganze Ausdruckspalette der Partitur – von greller unbekümmerter Buntheit bis hin zu Kitsch nicht meidender Sentimentalität – ersteht ungeschmälert. Trotz detailfreudiger Ausmalung der collagenhaften Züge des Werks bleibt der große sinfonische Zusammenhang gewahrt. Hätte Neuhold sein österreichisches Temperament im Eingangsabschnitt des Schlußsatzes besser gezügelt und auf gefühlvolle, bedeutungsschwangere Dehnungen verzichtet, hätte sein Dirigat uneingeschränkt glücklich machen können.
Fast uneingeschränkt glücklich machte auch der Beitrag der Mezzosopranistin Iris Vermillion. Die dunkle Tönung ihrer aus dem Nichts aufblühenden Stimme fügte dem fahlen Licht des Nietzsche-Satzes ein glühendes Dunkelblau hinzu, das eigentlich erst zu entdecken wäre. Nur den ironischen Grundton des Glockensatzes hat sie mit ihrem Willen zur Dramatik nicht getroffen. Ein Vergnügen besonderer Art bereitete gerade dort der Tölzer Knabenchor, der mit beherztem Bim-Bam dem süßen Sang des Frauenchores der Singakademie kräftig zu Leibe rückte. Dank auch dem Orchester, das sich durch seinen Zwist mit dem Chef nicht davon abhalten ließ, sein ganzes Können aufzubieten und farben- und nuancenreich Mahlers Weg vom Dunkel zum Glück begleitete.
Offenbar offen für den geglückten Aufbruch zu neuen Ufern, dankten die Musikfreunde bewegt mit gehöriger beifallsmäßiger Prachtentfaltung.
Mario Nitsche
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