: Das „Märchen von der Kostenexplosion“ im deutschen Gesundheitswunderland
■ Er enthüllt endlich die „populären Irrtümer“ in der Gesundheitspolitik und klärt diese mit zwei Wissenschaftlerkollegen aus Potsdam und Berlin in einem frisch erschienenen Handbuch auf: Der Bremer Gesundheitswissenschaftler Dr. Bernard Braun
Der Bremer Gesundheitswissenschaftler Dr. Bernard Braun (vgl. Kasten) vom Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen will den „Nebelwerfern“ in der bundesdeutschen Gesundheitspolitik das Handwerk legen. Gemeinsam mit seinen Kollegen Matthias Reiners aus dem brandenburgischen Gesundheitsministerium und Hagen Kühn vom Wissenschaftszentrum Berlin startet er jetzt einen Angriff auf all jene, die einer schrittweisen Privatisierung nach us-amerikanischem Vorbild das Wort reden – mit dem immergleichen Argument der „Kostenexplosion“ im bundesdeutschen Gesundheitswesen. Stimmt es wirklich, daß die Gesundheitsausgaben dramatisch explodieren? Daß deshalb Beiträge und somit die Lohnnebenkosten weiter steigen und so zu einer Gefährdung unseres Wirtschaftsstandortes führen?, fragten sich deshalb die drei Wissenschaftler und sammelten dafür bislang fehlendes empirisches Beweismaterial. Das Ergebnis wurde jetzt im Fischer Taschenbuchverlag veröffentlicht: „Die Märchen von der Kostenexplosion – Populäre Irrtümer zur Gesundheitspolitik“. Wir sprachen mit Dr. Bernard Braun über Legenbildungen, Mythen und ihre Aufklärung.
taz: Alle gehen davon aus: Die Kosten im Gesundheitswesen explodieren. Haben die Krankenkassen und Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) in der Vergangenheit nur mit Nebelkerzen geworfen?
Dr. Bernard Braun, Gesundheitswissenschaftler: Die gesamte jahrelange Politik des Bundesgesundheitsministers fußte auf einer Legende der Kostenexplosion: Dabei wurden zum Beispiel Zahlen genannt, nach denen zwischen 100 und 40 Prozent der Versicherten mit der Inanspruchnahme von Leistungen Mißbrauch betreiben. Wir haben diese Behauptung jetzt erstmals empirisch zu erhärten versucht – und sind auf ganz andere Zahlen gestoßen.
Was haben Sie entdeckt?
Zum behaupteten Mißbrauch haben wir zum Beispiel vorhandene Krankenkassendaten analysiert, die frei zugänglich sind. Sowohl die Kassen als auch der Bundesgesundheitsminister hätten sich hier also schlaumachen können. Wir betrachteten die Daten von über 20.000 Krankenversicherten im Hinblick auf ihre Inanspruchnahme von Leistungen über einen Zeitraum von sieben Jahren. Haben sie auf Teufel komm raus nach Leistungen geröchelt? Wie oft haben sie sich krankschreiben lassen? Die Antwort war: Eine immerhin erkleckliche Anzahl von Leuten hatte überhaupt nie irgendeine Leistung in Anspruch genommen. Auch die von uns ausgewerteten Daten vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen zeigten: In dieser Untersuchung zu Krankgeschriebenen gaben nur 0,3 Prozent der Versicherten eine Krankheit vor, die sie gar nicht hatten. Das alles zeigt: Diese ganz winzigen Größenverhältnisse rechtfertigen keinen Systemumbau.
Aber was ist mit dem vieldiskutierten womöglich durch die Chipkarte ausgelösten Doktorhopping?
Auch da wurde behauptet, es handele sich um ein gravierendes und gleichzeitig empirisch nachweisbares Problem. Dabei stand dieser aufgeblasenen Argumentation kein einziger Versuch entgegen, dies auch empirisch zu belegen. Es gab zwar einige wenige Analysen – zum Beispiel vom wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen und von der Kassenärztlichen Vereinigung. Dabei hatte man festgestellt, daß der nachweisbare Mißbrauch gering ist und sich im einstelligen Prozentbereich befindet. Dann legte aber die Kassenärztliche Vereinigung in Baden-Württemberg mit einer flächendeckenden Untersuchung nach, aus der dann nur eine einzige Zahl in ganz Deutschland immer wieder diskutiert wurde. Es war das Beispiel eines Versicherten, der in einem Quartal nebeneinander 22 Ärzte besuchte. Kurios ist dabei: Wir haben dieses in der Tat erschreckende Beispiel allein sieben Mal in der bundesdeutschen Presse gefunden. Ausschließlich damit wird dann Politik gemacht.
Sie sagen, daß hinter diesen Übertreibungen System steckt, um über kurz oder lang aus dem Solidarprinzip auszusteigen. Dabei bestreiten Sie ja gar nicht, daß es ein Problem gibt – daß nämlich die Ausgaben in der Tat steigen.
Das tun sie ja auch. Ende der 80er Jahre betrug der Anteil aller Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt 8,4 Prozent. Heute liegt er bei rund zehn Prozent. Das entscheidende Problem sind aber nicht die steigenden Ausgaben, sondern die durch Arbeitslosigkeit und stagnierende Löhne relativ sinkenden Einnahmen. Die Kassen beziehen ihre Einnahmen aus den Bruttolöhnen- und gehältern und schneiden sich damit ein Stück aus einem Kuchen heraus, der sich zudem insgesamt verringert hat. Selbst wenn in den letzten Jahrzehnten keine einzige Mullkompresse mehr nachgefragt worden wäre, hätte man den Beitrag der Versicherungsträger erhöhen müssen. Wäre die Lohnsumme konstant geblieben, würde der Beitragssatz deutlich unter zwölf Prozent liegen. Jetzt liegt er bei 13,2 Prozent. Kein Mensch würde da mehr über Kostenexplosion diskutieren.
Trotzdem geben Sie selber zu, daß die Ausgaben tatsächlich zugenommen haben.
Ja – es wurden zum Beispiel mehr Kuren gezählt. Aber dafür ist nicht die Gier nach immer neuen Kuren verantwortlich, sondern auch die Tatsache, daß der Anteil älterer Menschen relativ wächst. Aber es gibt noch ein weiteres Problem: In den letzten Jahren haben massive Eingriffe der Bundesregierung in die Krankenversicherung stattgefunden. So wurden zum Beispiel zur Entlastung des Bundeshaushaltes die Beiträge von Rentnern und Arbeitslosen zur Krankenversicherung abgesenkt. Das wurde an einem Wochenende beschlossen und bedeutete Einnahmeverluste von rund sechs Milliarden Mark im Jahr. Dann müssen die Kassen natürlich überlegen, wie sie Löcher stopfen und erhöhen die Beiträge.
Warum wird trotzdem mit dem Schlagwort Kostenexplosion Stimmung gemacht?
Ich bin mittlerweile der Ansicht, daß es Kalkül ist. Der Bundestag verfügt über eine Enquetekommission und einen Sachverständigenrat, in dem Wissenschaftler und Politiker sitzen, die die von uns vorgelegten Zahlen eigentlich kennen müßten. Aber ein Teil dieser Leute ist offenbar an einem großen Systemwechsel interessiert.
... und damit am Ende des Solidarprinzips?
Zum Beispiel. Unser Prinzip funktioniert nur auf der Basis von Vertrauen. Jahrelang zahlen viele ein, ohne jemals krank zu werden. In der Zwischenzeit gehen sie davon aus, daß sich alle anderen nicht hemmungslos auf ihre Kosten vergnügen. Wenn beträchtliche Teile der Bevölkerung dieses Vertrauen nicht mehr haben, werden sie auf jede Politik einsteigen, die daran etwas ändert. Die Alternative zu unserem System wäre dann eine radikale Privatisierung. Man darf schließlich auch nicht vergessen, daß in der Bundesrepublik im Zuge von Gewinnmaximierung immer wieder die Lohnnebenkosten beschworen werden. Da liegt natürlich der Wunsch nahe, die Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen und Krankenkassen loszuwerden.
Was wäre das Schlimme an einer Privatisierung? Die genannten Vorteile sind in der Diskussion zum Beispiel deutlich mehr Kostenbewußtsein der PatientInnen?
Dies wäre ja schön. Aber auch diese kursierenden Vorteile treffen empirisch nicht zu. Das amerikanische System hat trotz aller beschworenen Anreize, sich womöglich bei Arztbesuchen zurückzuhalten und mehr zu kalkulieren, höhere Gesundheitsausgaben. Dort werden derzeit 14 bis 15 Prozent des Sozialprodukts für Gesundheit ausgeben.
Warum?
Wenn jemand krank ist, ist er eben krank. Da bleibt ihm nichts anderes übrig. Außerdem reizt das System die Anbieter dazu, die Preise in privaten Vereinbarungen mit den Patienten in die Höhe zu treiben. Dadurch wird die Versorgung wieder teurer. Die größten Gewinner und Kostentreiber sind Rechtsanwälte und Haftpflichtversicherungen. Ein Patient kann schon von der Definition her kein souveräner Kunde oder Kostenmanager sein. Welcher Patient steht schon auf, wenn er heftige Schmerzen hat und sagt: Ich gehe lieber zu ihrem Kollegen, der macht das vielleicht billiger.
Wenn es das nicht sein kann. Wie ist das Solidarprinzip dann aus Ihrer Sicht zu retten?
Zum einen muß sich auf der Einnahmeseite etwas ändern. Man könnte zum Beispiel eine Wertschöpfungsabgabe einführen: Danach müßten leistungsfähige Unternehmen einen Anteil ihres Gewinnes abdrücken. Aber auf der Ausgabenseite kann man dagegen durch Belastungen von Versicherten machen, was man will: Die gewünschten Effekte erlangt man dadurch nicht. Dafür haben wir auch Beweise erbracht und Zahlen eingeholt. Sachverständige hatten nach Leistungen gesucht, die man streichen kann, ohne daß gesundheitliche Nachteile entstehen. Dabei kamen sie auf eine Summe von rund 25 Milliarden Mark. Das sind rund neun Prozent Einspareffekt, wenn man von den ingesamt 280 Milliarden Mark ausgeht, die in der Krankenversicherung umgesetzt werden. Allein durch das Einsparen eindeutig unwirksamer Medikamente kann man rund fünf Milliarden Mark sparen.
Wie wollen Sie für Ihre Schlußfolgerungen jetzt Überzeugungsarbeit leisten?
Unser Hauptaugenmerk liegt vor allem bei den Krankenkassen. Diese haben wir auch in unserem Buch konkret angesprochen. Sie sind es, die die wirklichen Zahlen eigentlich vorliegen haben. Diese gilt es, auch auf Kassenseite auszuwerten, um gesellschaftspolitisch endlich in Aktion zu treten.
Fragen: Katja Ubben
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