Das Portrait: Herold der Demokratie
■ Vladimir Bunin
Während der Wahlkampagne zum Obersten Sowjet der UdSSR im März 1989 durften sich zum ersten Male Bürgerinitiativen zugunsten unabhängiger Kandidaten bilden. An einem Sonntag versammelte sich eine dieser Gruppen in einem Moskauer Vorort. Beim Eintreffen verstummten die Leute. KPdSU-Anhänger hatten die Fenster und das Mobiliar ihres Versammlungsorts zertrümmert. Da erklomm, wie ein Ritter ohne Furcht und Tadel, ein zierlicher älterer Herr mit einem Spazierzock den einzigen heilen Stuhl und instruierte sie: „Laßt euch durch nichts davon abbringen, die Wahlhelfer zu kontrollieren! Ganz besonders müßt ihr aufpassen, wenn sie ihre Butterbrote auspacken. Denkt dann nicht an euren Appetit! Blickt ihnen lieber auf die Finger!“
Der fragile Herold der Demokratie hieß Vladimir Anatoljewitsch Bunin. Ein Hüftleiden, das er sich beim Sturz auf einer Baustelle zuzog, hatte ihn vorzeitig hinfällig gemacht. Mitte letzter Woche starb er mit 65 Jahren an einem Herzinfarkt. Am Samstag haben seine Freunde, seine Frau Anja und seine Töchter Schenja und Julia ihn beerdigt.
Um 1990 fehlte seine sich mühsam am Spazierstock dahinschleppende Gestalt auf keiner der großen Demonstrationen, auf denen die demokratische Umgestaltung gefordert wurde. Sprühend vor Witz kommentierte er für uns Ausländer das Geschehen. Später war Bunin rechte Hand des ersten frei gewählten Moskauer Bürgermeisters, Gawril Popow. Als sich im Bürgermeisteramt die Korruption breitmachte, fing er freiwillig als Ombudsmann beim Stadtparlament an. Hunderten von Opfern der Stalinwillkür und vielen armen Mietern, denen die Häuser über den Köpfen zerbröckelten, hat er im Moskauer Beamtendschungel zu ihrem Recht verholfen.
Die Empfangsdamen, die mit ihm im Pförtnerhäuschen der Moskauer Stadtduma saßen, erfuhren erst nach seinem Tode, mit wem sie den Platz teilten: auf Vladimir Anatoljewitschs professionelles Konto gingen berühmte sowjetische Mammutbauten, für die er mit Orden hochdekoriert wurde.
„Für uns ist ein Banner gefallen“, sagte bei der Beerdigung ein Freund und Kollege Bunins. Besonders stimmt dies für die Journalisten unter Vladimir Anatoljewitschs Freunden. Seine bissige Analysen waren für uns stets ein unfehlbarer Leitfaden. Barbara Kerneck
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