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Verbindendes zum Versöhnungstag

Drei jüdische Studenten erarbeiten ein einheitliches Gebetbuch für die Hohen Feiertage: in deutscher und russischer Übersetzung. Es hilft beim Beten und bei der schwierigen Verständigung in den Jüdischen Gemeinden  ■ Aus Köln Daniela Weingärtner

Ein schmales graues Heft liegt an Erew Jom Kippur, dem Vorabend des Versöhnungstages, druckfrisch in den Bankreihen der Kölner Synagoge. Die Blätter sind rechts zusammengefaßt, wie es der hebräischen Lesart entspricht, neben jedem hebräischen Gebetstext steht aber die deutsche oder russische Übersetzung. Draußen vor der schweren Holztür begrüßen sich festlich gekleidete Menschen, manche haben sich seit dem Versöhnungsfest vor einem Jahr nicht gesehen. Während sie vergnügt Neuigkeiten austauschen, gehen andere still vorbei.

Jom Kippur ist der Jahrestag der Tempelzerstörung, einer der Hohen jüdischen Feiertage (dieses Jahr am vergangenen Mittwoch, dem 30. September) und für die Strenggläubigen Tag der Besinnung und Selbstreinigung. Sie werden 25 Stunden lang nichts essen, nichts trinken, keine Elektrizität benutzen und nichts Produktives tun. Sie werden nicht einmal ein Blatt Papier zerreißen.

„Man mag mich für borniert halten“, sagt eine ältere Kölnerin mit Blick auf das Gedränge, „aber ich erkenne meine Gemeinde nicht mehr wieder.“ Dann schiebt sie sich mit den anderen durch die Sicherheitsschleuse und geht zur Gedenktafel für die 11.000 ermordeten Kölner Juden. Zwei Totenlichter holt sie aus ihrer Handtasche, für Vater und Mutter.

Anfang der 90er Jahre zählte die Synagogengemeinde in Köln 1.200 Mitglieder, zurückgekehrte deutsche Juden und Zuwanderer. Heute sind es 3.200 Gemeindemitglieder. Kleinere Gemeinschaften in anderen Orten haben sich sogar verzehnfacht oder feiern – wie die Jüdische Gemeinde in Rostock – erstmals seit der Nazizeit wieder Gottesdienste. Nach Überzeugung des Kölner Rabbiners David Bollag sind es die Neuzuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die sicherstellen, daß jüdisches Leben in Deutschland eine Zukunft hat.

Aber es entstehen auch Spannungen. Ein Mitglied des Gemeindevorstands spricht von der Mauer zwischen Alteingesessenen und Neumitgliedern. „Manchen von uns geht es wohl zu gut, daß sie ihre Vergangenheit vergessen. Schließlich sind die Jüdischen Gemeinden in Deutschland nach dem Krieg alle durch Einwanderung entstanden.“ Das neue Gebetbuch, das Machsor, in seiner deutschen und der kyrillischen Ausgabe genau gleich aufgebaut, ist für ihn ein Versuch, diese Mauer einzureißen. „Viele sagen: Sollen die Neuen doch Deutsch lernen. Aber wie sollen sie das machen, wenn sie siebzig sind?“ Für die Kleinen gebe es den jüdischen Kindergarten, die Größeren gingen ins Jugendzentrum oder nähmen an jüdischen Ferienlagern teil – den Alten aber bleibe nur das Gebet, um sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen.

Bevor die Gebete beginnen, tritt der junge Rabbiner ans Mikrophon. David Bollag dankt den Herausgebern des neuen Gebetbuchs und allen Sponsoren, die es ermöglicht haben, daß das Machsor auch in den finanzschwachen ostdeutschen Gemeinden ausgelegt werden kann. Dann zieht er das Gebetstuch in die Stirn, wendet der Gemeinde den Rücken zu und vertieft sich vor- und zurückschaukelnd in seine Gebete. Während der kommenden zwei Stunden wird er fast ununterbrochen so stehen, während die Gesänge des Kantors die Gemeinde durch den Gottesdienst führen.

Auf der Balustrade im zweiten Stock, wo die Frauen getrennt von den Männern sitzen, nimmt die skeptische Kölnerin das druckfrische silbergraue Heft neugierig in die Hand. Sie kann Hebräisch lesen und folgt den zweistündigen Jom-Kippur-Gebeten mühelos in ihrem eigenen, abgegriffenen Büchlein. Aber ihre Enkelin greift dankbar nach der zweisprachigen Ausgabe. Sie fühlt sich im Hebräischen nicht sattelfest und kann mit Hilfe der deutschen Kurzkommentare nachvollziehen, wann sie aufstehen muß, ob sie leise mitsprechen oder dem Vorbeter laut antworten soll. Das Machsor endet mit der Jom-Kippur-Geschichte vom jüdischen Waisenjungen, dem nur ein schwarzweißgestreifter Schal, Gebetsriemen und „ein dickes Buch mit vielen unbekannten Zeichen“ von seinen Eltern geblieben sind. Dem Jungen gelingt es, eine Synagoge zu finden und die Gesten der Betenden nachzuahmen. Aber er kann das Buch nicht lesen, und so packt ihn tiefe Verzweiflung...

Auf die Situation der Jüdischen Gemeinden in Deutschland paßt diese Geschichte ziemlich gut. 80.000 Juden leben heute in Deutschland, 60 Prozent stammen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Viele haben dort das Beten mit der Gemeinde verlernt, weil sie ihren Glauben nur heimlich ausüben durften. Ihnen hilft die russische Übersetzung, sich in der Zeremonie zurechtzufinden.

Jana ist vor sechs Jahren aus Odessa gekommen. „Mein Großvater war sehr gläubig. Schwiegereltern auch. Wir haben alle Feste gefeiert – aber nur in der Familie.“ Das Machsor mit russischen Erläuterungen empfindet sie als große Hilfe. „Die Menschen fühlen sich nicht so fremd. Gemeinsames Gebet macht viel Spaß.“

David Mermelstein freut sich, daß das neue Gebetbuch Anklang findet. Schließlich hat der frischgebackene Betriebswirt viele Stunden Freizeit geopfert, damit es rechtzeitig zu den Feiertagen in den deutschen Synagogen ausliegt. Im Dreierteam der Herausgeber war der 26jährige fürs Marketing zuständig. Aber während der Arbeit hat er gemerkt, wie die intensive Beschäftigung mit der Tfila, den Gebetstexten, sein Glaubensverständnis zu verändern begann.

Und so ist er heute abend zum ersten Mal zu Fuß in die Synagoge gekommen, wie es für Erew Jom Kippur vorgeschrieben ist. David stammt aus einer liberalen Familie und hat es bislang mit den Regeln nicht so genau genommen. Aber die vielen Nachtsitzungen in Robert Staflers Studentenbude haben bei ihm etwas in Bewegung gebracht. Robert Stafler und David Mermelstein – zwei junge Kölner Juden, deren Familien aus Rumänien stammen und die sich über die jüdische Jugendorganisation schon lange kennen. Der Jurist Robert – klein, zierlich, ein ernster junger Mann mit Denkerbrille und Kipa auf den schwarzen Haaren. Der Kaufmann David – groß, blond und immer vergnügt.

Aus kaufmännischer Sicht gibt es in diesen Tagen gute Gründe, vergnügt zu sein. Gemeinsam mit Roberts Bruder Patrick haben die beiden am 1. Juni dieses Jahres J.I.D.L. gegründet, eine GmbH für „Jüdische Informations- und Dienstleistungen“. Zwei Produkte hat J.I.D.L. inzwischen auf den Markt gebracht: Gebetbücher zum jüdischen Neujahrsfest und zu Jom Kippur, wahlweise deutsch/hebräisch oder russisch/hebräisch – und beide sind Verkaufsschlager.

„Das soijn nischt kein Produktn, das soijn Machsorim“, hat ein 80jähriger Kunde aus Bayreuth neulich tadelnd am Telefon gesagt, als Robert beim Verkaufsgespräch ins Schwärmen kam: von dem grausilbernen Chromolux-Cover des Büchleins, das schön aussieht und lange hält; von den Finanzierungsmöglichkeiten durch Sponsoring, bei denen J.I.D.L. gern be- hilflich ist. Tatsächlich ist der 23jährige vom unerwarteten Erfolg der Geschäftsidee so begeistert, daß er sich manchmal anhört wie der Marketingdirektor eines Autokonzerns. Während der gemeinsamen Nachtsitzungen am Computer hat eben nicht nur David eine neue Welt entdeckt. „Der Nutzer, der in die Synagoge kommt, will nicht in die Tiefe gehen“, glaubt Robert. Zwiesprache mit Gott könne jeder in seiner Muttersprache halten, ganz allein. „Gottesdienste sind dafür da, sich verknüpft zu fühlen mit allen, die zur gleichen Zeit überall auf der Welt dasselbe tun.“

Ihm selbst ist das allerdings nicht genug. In seiner Glaubensauffassung geht er inzwischen weit über das hinaus, was er im Elternhaus kennengelernt hat. Jeden Morgen legt er die Gebetsriemen an, und er hält sich an die Essensvorschriften. „Dort wo's nicht koscher ist, ess' ich nicht“, sagt er, und sein Gesicht sieht plötzlich streng aus. Mit dem Bekenntnis zu den jüdischen Glaubensregeln versucht er den Konflikt aufzulösen, den seiner Meinung nach jeder Jude mit sich herumträgt, der in Deutschland lebt. Ein neuer Konflikt entsteht aber immer dann, wenn seine Mutter für ihn kocht: „Daß ich meine Eltern ehren möchte, wie die Tora das verlangt, und daß ich koscher essen möchte, wie die Tora das verlangt.“

Rabbiner Bollag, der aus der Schweiz stammt und mehrere Jahre in den USA gelebt hat, hält Roberts Entwicklung für ein typisches Phänomen: Die erste Einwanderergeneration kämpfe ums Überleben und schiebe religiöse Fragen beiseite. Die zweite Generation mache sich wieder auf die Suche nach einer Verbindung zum Judentum. Die neuen Gebetbücher könnten bei den Altmitgliedern der Gemeinden jüdisches Bewußtsein stärken. Bei den Neumitgliedern müsse es darum gehen, solches Bewußtsein überhaupt zu entwickeln. Die Kenntnisse über die eigene Religion seien aber in beiden Gruppen gering.

Die Klage vieler Altmitglieder, die Neuen wollten nur die sozialen Angebote der Gemeinde nutzen, interessierten sich aber nicht für die Religion, will Bollag nicht gelten lassen. Der smarte, jugendlich wirkende Mann ist, wie er sagt, „schon fast zehn Jahre in dem rabbinischen Business“. Schon immer hätte die Sozialarbeit in der Diaspora – gerade auch in Deutschland – einen hohen Stellenwert ge- habt. In der gegenwärtigen Situation sei es angemessen, daß die Kölner Gemeinde nur zwei Rabbiner beschäftige, aber drei russischsprachige Sozialarbeiterinnen.

Der Geschäftssinn der jungen Gesellschafter von J.I.D.L. steht für Rabbiner Bollag nicht in Widerspruch zu religiösen Überzeugungen. Er lächelt ironisch und sagt in amerikanisch-schweizerisch gefärbtem Deutsch: „In Deutschland hat das Judentum ein Image, das verstaubt und amorph ist. Daß auch das Judentum modern und kundenbezogen sein kann, können sich die Leute hier nicht vorstellen.“ In Robert Staflers Leben – so prophezeit sein Rabbiner mit zehnjähriger Erfahrung in dem Business – wird die Karriere als deutscher Herausgeber jüdischer Gebetbücher nur eine Durchgangsstation sein. „Gerade bei jungen Juden, die Wissen und Kompetenz in ihrem Glauben erwerben, damit es ihnen als Juden leichter wird, in Deutschland zu leben, wächst am Ende der Wunsch, nicht hierzubleiben.“

Noch hängt Robert in seiner Kölner Studentenbude zwischen Bett, Büro und vier halbleeren Druckereikartons ständig am Telefon. Er vermarktet die letzten 11.000 Hefte. 51 der 70 Jüdischen Gemeinden in Deutschland haben komplette Sets für beide Feiertage gekauft, „eine Marktabschöpfung von 85 Prozent“, sagt er stolz. Die Druckerei ist bezahlt, der Bankkredit ausgeglichen – aber Roberts Telefon klingelt weiter. Jetzt rufen Privatpersonen an, die so ein Heft in der Synagoge gesehen oder über Freunde davon gehört haben. Auch viele Nichtjuden wollen die neuen Machsorim kaufen.

Deutschland verlassen? Wer Robert am Telefon so flüssig amerikanisch wie hebräisch reden hört, dem wird klar, daß seine Zukunft nicht unbedingt in Deutschland liegen muß. Aber im Augenblick gibt es hier noch eine Menge für ihn zu tun. Oder, um den Aufdruck auf seiner schwarzen gehäkelten Kipa zu zitieren: „Just do it“.

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