Eine familiale Dressur

„Lichtpause“: Ulrike Draesner erinnert Kindsheitsunglück  ■ Von Michael Schweizer

Solche Debüts sind selten: Als 1995 Ulrike Draesners erster Gedichtband „gedächtnisschleifen“ erschien, lobten ihn auch bekannte Kritiker. Sie sprachen aber nicht deutlich genug aus, daß etwas Großes begonnen hatte; daß die Sammlung mindestens ebenso viele Gedichte enthält, die sich auch beim achten oder zehnten Lesen nicht abnutzen, wie ein anderer, berühmt gewordener lyrischer Erstling: Ingeborg Bachmanns „Die gestundete Zeit“ (1953).

Der unmittelbarste Sog, die wühlendste Trauer gingen von Draesners Gedichten über Liebe („die Pfauen balzen gesehen / und schreien gehört vor Gier“) und Liebesleid aus. Das ist bei vielen Lyrikern so. Der Autorin gelang aber noch anderes, nicht Erwartbares: Einige ihrer Verse überschattet das nationalsozialistische München, in anderen brutzelt das Wirtschaftswunder. Ich hätte nicht gedacht, daß jemand, der 1962 geboren ist, diese Themen unpeinlich und erhellend in Gedichten behandeln kann. Doch Draesner bringt die „auffahrtsrampe“ mit dem „klipphaken am bh, schnallend, der Mutter“ zusammen. Wenn sie neue Wörter bildet und eine eigene Grammatik gründet, ist das nicht die übliche epigonal-moderne, unlesbare Spielerei. Sondern es hat jeweils seinen Grund in der zunächst einmal außersprachlichen Wirklichkeit, in den Menschen, Verhältnissen und Gefühlen, über die sie etwas sagen will. So erzeugen die modernsten Mittel den Rausch und die Denkblitze, die Leser und Hörer von Gedichten seit ein paar tausend Jahren erwarten. Wegen alledem machte mich die Aussicht, Draesners ersten Roman zu besprechen, nervös. Würde sie dieses andere Schreiben auch gekonnt haben?

„Lichtpause“ erzählt von Zurichtung und Widerstand der kleinen Hilde. Hildes Familie in Planegg bei München ist normal schlimm. Die Eltern haben sich das übliche 60er-Jahre-Gehäuse hingestellt, stark betonhaltig und mit hohen Schulden belastet. Darin sitzen nun Vater, Mutter, Hilde und ihre jüngere Schwester Berta und köcheln Familialneurosen bekannten Typs. Mehr nicht, aber Hilde hat es noch nicht verdrängt und vergessen, sie spürt die vielen Demütigungen, Beleidigungen, Enttäuschungen noch von Einzelheit zu Einzelheit. Irgendwann ist die Kette zu lang und zu eng, und Hilde liegt, wie wir auf den ersten und dann wieder auf der letzten Seite erfahren, leblos vor dem Haus.

Diese Geschichte stellte ein Erzählerproblem. Gezeigt werden sollte Hildes Sicht; läßt man aber eine sensible, einsame Elfjährige im Originalton reden, wird kein Roman daraus. Draesner hat daher ein „Ich“ eingeführt, das, wie es sogenannte klinisch Tote berichtet haben, den Körper des bewußtlosen Mädchens verläßt und dann erzählt, was sich vor der Katastrophe ereignet hat. Nicht mehr in Ich-Form, sondern personal und gelegentlich auktorial: Es weiß alles über Hilde und mehr als Hilde über andere. Diese Erzählerin kann, was auch kluge Elfjährige nur ansatzweise können: Leitmotive einziehen, Sprecher durch Sprachanalysen der Roheit überführen, Wittgenstein und den Bundeskanzler zitieren. So erfährt der Leser mehr über das Mädchen, als dieses selbst zu sagen vermöchte, aber nichts Verfälschendes: Es entsteht Kunst.

Draesners Erzählerin ist sprachschöpferisch. Wenn die Eltern als lärmende, nörgelnde Einheit auftreten, heißen sie „das Elt“. Aufgabe von Substantiven ist es, steif und unflexibel zu sein; gebraucht man also eines, wo ein Verb erwartet werden könnte, ist damit auf die Mechanik, den Automatismus des Familienlebens hingewiesen: „Mitten im Haus steckt die Mutter in einem Kümmern.“ Böse Neologismen eignen sich für solche Beobachtungen ebenfalls: „August 5: aus der Mutter fällt neues Schwesterfleisch.“ Die Erzählerin rächt sich für Hilde sprachlich: „Das Kind ist nicht ganz dicht – nuscheln die in die Wohnzimmersessel geschmierten Tanten.“ Da trifft jedes Wort. Im ganzen Roman habe ich keinen grammatischen Fehler, kein schiefes Bild, kein überflüssiges und nur ein ungenaues Adjektiv gefunden. Angesichts einer Gegenwartsliteratur, die den Kampf mit dem Konjunktiv weitgehend aufgegeben hat, ist das erwähnenswert.

Die Autorin nutzt die mehrwissende Erzählerin, um die Meinungen ihrer Hauptfigur ein bißchen zu relativieren. Gewiß, es ist Hilde („ein kleiner, unruhiger Körper steht noch einmal auf“), die den Leser rührt. Doch in der kleinbürgerlichen Familie ruinieren ja nicht nur die Eltern die Kinder, sondern auch umgekehrt. Hilde hat so ihre Tricks. Und „das Elt“, dieser maulende Trampel, könnte vieles besser machen, aber nicht alles. „Lichtpause“ handelt von vermeidbaren Grausamkeiten, aber auch von der wohl natürlichen Fremdheit zwischen jedem Kind und denen, die es aufziehen. Sicher gibt es Unterschiede. Hemingway sagte, die beste Voraussetzung, um gut zu schreiben, sei eine unglückliche Kindheit.

Ulrike Draesner: „gedächtnisschleifen“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995, 127 Seiten, 14,80 DM

Ulrike Draesner: „Lichtpause“. Roman. Verlag Volk und Welt, Berlin 1998, 206 Seiten, 30 DM