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Versunkene Welten aus Vinyl

Die Entdeckung der Traurigkeit auf elektronischer Grundlage im Berliner Oktober: Tarwater haben auf ihrem neuen Album „Silur“ ihren Sound perfektioniert  ■ Von Thomas Winkler

Draußen klirrt das kälteste Oktoberwochenende seit Beginn der Temperaturaufzeichnung. Drinnen sitzt Bernd Jestram und will wieder zurück in die Steinzeit. „Der Umgang mit Computern ist toll“, sagt die eine Hälfte von Tarwater, „aber der Klang interessiert mich nicht.“ Demnächst will er sich eine Bandmaschine zulegen, ein ausdrücklich antiquiertes Modell. Das mag „eine feingeistige Entscheidung“ sein, die „keiner nachvollziehen kann“, weiß Jestram. Aber er ist sich sicher, daß er den Unterschied hört.

Das sagt allerdings jemand, der bisher ausführlich an der Schnittstelle zwischen klassischer und digitaler Musikproduktion operierte. Dort entdeckten Jestram und sein Partner Ronald Lippok allerdings schon früher ausschließlich eine sehr warme Traurigkeit, eine sehnsuchtsvolle Verlorenheit, die selbst für TripHop fast zu bedächtig war. In der Schublade landeten sie trotzdem, auch wenn ein stetes Begleitrauschen, das ganz bewußt versunkene Welten aus Vinyl beschwor, sich durch ihre Veröffentlichungen knackte.

Keine strategische Suche nach Samples

Ihre Musik lebte immer auch von der Spannung zwischen dem elektronischen Entstehungsprozeß und der nur scheinbar altmodischen Romantik einer Vierspuraufnahme. Diese melancholische Grundstimmung hat sich auch auf „Silur“, dem neuen Tarwater-Album, nicht geändert. Tatsächlich ist dieser spezielle Tarwater-Sound sogar perfektioniert, sind die meisten Songs ganz Stimmung, hinter der das Liedhafte nahezu verschwindet. Was auch an der Arbeitsweise liegt. Lippok und Jestram suchen ihre Samples „nicht strategisch“ wie die meisten anderen aus einer bestimmten Epoche, auf die sie sich beziehen wollen, sondern forschen ganz bewußt nach möglichst obskuren Platten ohne pophistorisch relevante Bezüge. Das kann die LP eines völlig unbekannten italienischen Schnulzensängers sein oder eine Jubeledition zur Feier von 100 Jahren Tonträger. Die Samples sollen nicht Anlaß von Aha-Effekt oder Popquiz werden, sondern „Platz lassen für uns und die Zuhörer“.

Dann wird experimentiert mit der Stimmung, die das Sample entstehen läßt, Instrumente und Effekte zugefügt. Erst als letzter Schritt entsteht streng genommen der Song als Lied, wenn der Gesang als „ordnendes Element“ hinzukommt.

Die Texte dafür schreiben sie schon traditionell eher selten selbst. Manchmal klauen sie aus alten, fremden Songs, öfter bedienen sie sich bei Literatur, auf die sie selbst stoßen oder die ihnen zugetragen wird. Auf „Silur“ zeichnen neben anderen Marc Bolan, Aldous Huxley und Terry Wilson ungefragt für Urheberschaft verantwortlich. Und von Philippe Costeau, dem Sohn des berühmten Jacques, stammt die Schilderung einer Hai-Attacke, die im Titelsong verarbeitet wird. Rechtliche Probleme, glaubt Jestram, wird es nicht geben. Jedenfalls nicht, „solange wir keine Millionen verkaufen“. Und danach sieht es erst mal nicht aus.

Exotenbonus auf den Britischen Inseln

Die ersten beiden Tarwater-Alben schafften es nur knapp in den vierstelligen Bereich, während Jestram nicht ohne Stolz von 3.000 bereits vorliegenden Vorbestellungen für „Silur“ weiß, „davon allein 800 aus England“. Dort hat es Tarwater schon immer sehr gut gefallen, vom Sound der englischen Studios, die Jestrams Vorstellungen am nächsten kommen, bis zum Publikum, das auch nicht stört, daß mancher Loop von Tarwater wirkt, als wäre er einen Tick neben den Rhythmus geschnitten. „In Polen haben alle getanzt“, in Amerika, wo man auf Einladung des Goethe-Instituts war, auch.

Doch hierzulande werden sie nicht als Tanzmusik wahrgenommen, sondern eher als Teil der neuen Electronica rezipiert, gehören sie zum „Electronic-Listening- Ding“, wie Jestram es nennt, „das ist schon typisch deutsch“. Dort eingeordnet fühlt man sich sicherlich auch nicht unwohl, schließlich saß Jestram schon für die Düsseldorfer Kreidler an den Reglern und ist Ronald Lippok weiterhin mit seinem Bruder sowie Kreidlers Stefan Schneider als To Rococo Rot aktiv. Vom „Exotenbonus“ aber profitieren sie vor allem auf der Insel. Der New Musical Express befand „Silur“ schlicht für „excellent“, der Melody Maker verglich sie bereits mit Massive Attack, und da ist viel Wahres dran.

Trotz aller englischer Begeisterung wird Jestram wohl kaum in allernächster Zukunft die „unsicheren Verhältnisse“ verlassen, in denen er lebt, seit er im Ostberlin der 80er gemeinsam mit den Lippok-Brüdern Ornament und Verbrechen ins Leben rief. „Wenn man nicht bestimmte Regionen erreicht“, sagt er, „kann man nicht von den Verkäufen leben.“ Aber durch die Veröffentlichungen erschließen sich „andere Bereiche“, in seinem Fall Aufträge für Theater und Film. Die Melancholie von Tarwater wird uns also noch über weitere böse kalte Tage tragen. „Die Stadt und der Zeitpunkt haben großen Einfluß“, hat Jestram im Laufe seines Musikerdaseins erkannt. „Silur“ entstand zum großen Teil im vergangenen Winter. Auch wenn ihm die Stadt auf die Nerven geht, hat Jestram nicht vor, demnächst umzuziehen. „Winter und Berlin“, sagt Jestram, „da macht man keine Sunshine-Musik.“

Tarwater: „Silur“ (Kitty-Yo/ EFA)

Tarwater, Schneider TM und Tikkiman, heute ab 22 Uhr im Maria am Ostbahnhof, Straße der Pariser Kommune 8–10

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