Der Humanismus aus dem Hühnerei

■ Minimalisten einst und heute: Die Weserburg zeigt eine spannende Ausstellung mit alter und neuer Minimal Art

Dieser Mann ist (war) für Sprüche gut: „I'm totally uninterested ...“ spul-spul-spul-stop „Ich bin vollkommen uninteressiert an europäischer Kunst, und ich glaube, es ist vorbei mit ihr“, sagte der 1928 geborene Künstler Donald Judd einmal. Und er sagte auch: „Ich will eine Kunst schaffen, die alle humanistischen Ideale hinter sich läßt.“ Leider ist der Teilnehmer an der Ausstellung „primary structures“ 1966 im Jewish Museum zu New York, die als Geburtsstunde des Begriffes Minimal Art gilt, schon seit vier Jahren tot. So kann der neben Carl Andre, Dan Flavin, Robert Morris und Sol LeWitt als Mitbegründer dieser Kunstströmung geltende Judd keine seiner radikalen Sprüche mehr in die Welt setzen. Und so kann sich Donald Judd auch nicht mehr dagegen wehren, daß der Kurator im Neuen Museum Weserburg, Peter Friese, zwei seiner berühmten Wandkästen einen Augenblick entfernt von des neuen Bremer Kunsthochschullehrers Yuji Takeokas Schaukasten aufgehängt hat. „Möglicherweise“, sagt Friese, „würde sich Judd bei diesem Anblick selbstironisch im Grab umdrehen.“ Vielleicht würde er aber auch richtig unwirsch werden.

Also trifft Wandkasten auf Schaukasten, und Hühnerei trifft auf einen verkabelten Betonklotz: Es ist eine ausufernde Begegnungsfeier, die Peter Friese da in unserer wunderbaren Weserburg auf fast alle Etagen verteilt und arrangiert hat. „Minimal Maximal“ heißt diese nach der „Arte Povera“ zweite große Rückschau auf eine epochemachende Strömung der Nachkriegskunst: Nämlich auf das US-Erzeugnis der 60er und folgenden Jahre namens Minimal Art, deren Vertreter dem abstrakten Expressionismus jener Zeit contra gaben, ihre Formensprache und Themen immer weiter reduzierten, bis kaum noch etwas zu reduzieren war.

Doch weil Weserburg-Chef Thomas Deecke sein Haus als Museum zeitgenössischer, also nach-moderner Kunst bezeichnet, ist die Rückschau nicht bloß eine Rückschau. Beinahe gnadenlos wird die moderne Minimal Art mit Kunst zeitgenössischer MinimalistInnen konfrontiert. „Unsere Sicht auf die Minimal Art wird durch die aktuelle Kunst verändert“, weiß Peter Friese. Und er findet ein Beispiel für Deeckes und sein Konzept, das auch in Zeiten verstanden wird, in denen nicht nur Bremerhavener Abiturklassen Friedrich Hundertwasser als Schulbeispiel für moderne (?) oder zeitgenössische (?) Kunst vorgestellt wird. Friese sagt: Erst durch die Impressionisten sei man drauf gekommen, daß El Greco seinen Pinsel ja schon ähnlich geführt habe. Gleiche-ganz-andere Entdeckungen sind jetzt zuhauf in der Weserburg zu machen.

Da hängen zum Beispiel Donald Judds 1988 entstandene, aber streng minimalistische Wandkästen. Das sind aus Aluminiumplatten und Plexiglas verschraubte Boxen, denen jeder Pinselstrich und vor allem jede Spur individueller Gestaltung fehlt. Erst durch Betrachtung und Perspektivveränderungen ergeben sich wechselnde, aber immer reduzierte Bildkonstruktionen. Alles ganz einfach, minimal eben. Auch Yuji Takeokas Schaukasten gleich nebenan ist einfach minimal. Doch eine Nut am Rand verweist auf so etwas wie Benutzbarkeit und rückt das Objekt an die Grenze zum Design. Man möchte den Kasten schlicht öffnen, und genau das wäre Judd, der immer autonome Objekte schaffen wollte, wahrscheinlich schon viel zu humanistisch.

Gut, daß schon in den 60ern nicht alle auf Judd gehört haben. Einer von ihnen heißt Bruce Nauman. Erstmals zeigt die Weserburg sein Opus magnum des Minimalismus, das „Concrete Tape Recorder Piece“ aus dem Jahr 1968. Irgendwo im dritten Stock liegt das unscheinbare Stück Beton, aus dem ein Kabel herauslugt und in eine Steckdose führt. Und genauso unscheinbar wirkt Naumans Skizze an der Wand daneben. Dabei ist auf dem Taperecorder der Schrei eines (gefolterten?) Menschen auf einer Endlosschleife festgehalten. Und sobald man Naumans Kritzelschrift entziffert hat, meint man, diesen Schrei im Museum zu hören und spürt die aus dem unscheinbaren Klotz dringende starke Wirkung. Reduzierter und humanistischer zugleich geht's nicht.

Ohnehin wirkt hier vieles durch die Hintertür aufs Hinterstübchen. Richard Serras gerade eben aneinander lehnende Bleiplatten zum Beispiel sind längst Klassiker für das reduzierte und auratische Spiel mit der Schwerkraft. Die Polierungen Karin Sanders müssen es erst noch werden.

Die zeitgenössische Minimalistin stellt die Glaubensfrage: Auf einem Sockel im Erdgeschoß hat sie ein Ei drapiert, und es spricht nichts dagegen, daß es aus Porzellan ist – außer der Information, daß es sich tatsächlich um ein poliertes rohes Hühnerei handelt.

Das Ei führt buchstäblich in Versuchung, einen Versicherungsfall zu begründen. Es sei denn, man läßt sich durch Sanders polierte Wandfläche, durch Rolf Walz hängende Aquarien oder durch Mona Hatoums Glasperlenfeld von dieser Straftat abhalten. Insgesamt werden Arbeiten von 32 KünstlerInnen aus elf Ländern gezeigt und miteinander konfrontiert. Zur Ausstellung, die von Bremen nach Baden Baden und Santiago de Compostela weiterwandert, ist ein Katalogbuch erschienen. In vier Essays wird die Wirkungsgeschichte der Minimal Art untersucht und kommentiert. Dazu gesellen sich Biographien und Werkbeschreibungen.

Donald Judd hat übrigens nicht Recht behalten. Mit der europäischen Kunst ist es nicht vorbei. Christoph Köster

„Minimal Maximal“ bis 3. Januar im Neuen Museum Weserburg; Eröffnung Sonntag, 11. Oktober, 11.30 Uhr; Katalog 48 Mark