Für den Kosovo will niemand sterben

■ Viele Belgrader versuchen, das Land zu verlassen. Diejenigen, die bleiben müssen, fürchten mehr noch als die Bomben die Radikalisierung danach

Vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft in Belgrad wird nicht über die steigenden Preise von Zucker, Milch, Speiseöl und Fleisch diskutiert, sondern ob und wann die Nato die serbische Hauptstadt angreifen wird. Eine ältere Frau erzählt vom orthodoxen Ostersonntag 1944. Auch damals hätten Amerikaner und Engländer Belgrad bombardiert. „Sie wollten das Benzinlager der Wehrmacht treffen, haben aber ihren Bombenteppich über das Arbeiterviertel Cukarica gelegt. Tausende von Zivilisten sind dabei ums Leben gekommen!“

Heute seien Nato-Raketen viel präziser, tröstet eine Jüngere. „Vor Bomben habe ich keine Angst“, sagt sie. „Angst habe ich vor der Radikalisierung danach. Dann kommt Šešelj!“ Sie meint den Führer der Radikalen Partei, der schon jetzt Koalitionspartner der regierenden Sozialisten ist. „Wir brauchen keine Tomahawks, uns genügen die Kampfbeile unserer eigenen Faschisten!“ Der Besitzer des Ladens hat ganz andere Bedenken. „Was soll ich machen? Alles schnell versilbern und fliehen oder hamstern und reich werden, falls ich überlebe? Mein Lager ist groß genug, um das Stadtviertel ein halbes Jahr lang zu versorgen.“

„Fuck the Nato! Red Star is the Champion!“ hat irgendein Fan des Belgrader Fußballclubs auf die Tür des Ladens gekritzelt. Für Jugendliche sind Nato-Bomben genauso abstrakt wie Hollywood-Streifen über den Krieg in Vietnam: etwas, worüber man Witze reißt, und keine ernstzunehmende Gefahr.

Übers Wochenende verließen die meisten ausländischen Diplomaten mit ihren Familien die Stadt, viele von ihnen fuhren ins nahe Budapest. Ein Kellner im „Hyatt“, der mit den Journalisten bis in die frühen Morgenstunden auf den US-Chefunterhändler Richard Holbrooke warten muß, brummt neidisch: „Was die Budapester Hoteliers jetzt für Extraeinnahmen haben werden!“

Auch viele Belgrader versuchen, das Land zu verlassen. Und wenn ihnen das nicht möglich ist, versuchen sie herauszufinden, wo es Dörfer weit weg von Flugplätzen, Radaranlagen und Kasernenkomplexen gibt – nach dem Motto „Rette sich, wer kann“. Das einzige, was ihnen nicht einfällt, ist, dem Milošević-Regime die Schuld an der bedrohlichen Lage zu geben. Im Gegenteil, in ihrer Angst vor Nato-Schlägen scharren sich sogar jene um die Belgrader Führung, die den Präsidenten Jugoslawiens eigentlich nicht ausstehen können.

Unbeeindruckt sind nur die chinesischen und rumänischen Verkäufer auf den Flohmärkten. Die Geschäfte gehen blendend. Und merkwürdigerweise sind alle Flüge aus Tel Aviv nach Belgrad ausverkauft, nicht umgekehrt. Jugoslawische Juden, die zum Fest Jom Kippur im Land ihrer Väter waren, kehren, von den Drohungen aus dem Westen unbeeindruckt, in die Heimat zurück. Sie, die häufiger nach Israel fahren, haben gelernt, mit der Angst vor Bomben zu leben. Für den Kosovo will trotz patriotischer Reden der Politiker niemand sterben, aber aus Angst vor dem Bombentod haßt man jenen, von dem man glaubt, daß er sie verursacht hat. Und das ist der Westen. Wie immer in den nächsten Tagen die jetzige Krise ausgeht – Serbien ist danach weiter von Europa entfernt als je zuvor. Andrej Ivanji, Belgrad