: Vom Kurieren der Wirklichkeit
■ Jetzt auch als Buch: „Schlingensief! Notruf für Deutschland“
Kann die Kunst die Wirklichkeit kurieren? Christoph Schlingensief hat sich diesem Versuch verschrieben: die Dekonstruktion der Realität als Möglichkeit zur sozialen Besserung. Nun haben die Dramaturgen Wilfried Schulz und Julia Lochte (die Schlingensiefs Hamburger „Bahnhofsmission“ betreute) mehrere Versuche, dieses Unterfangen zu beschreiben, in Buchform gebannt. Ergebnis: das „Fanbuch“ Schlingensief! Notruf für Deutschland. Zunächst kommt darin der Meister selbst zu Wort, um sein künstlerisches Credo darzulegen: „Die Kontrollmechanismen verlieren und das zugleich als eine Inszenierung begreifen (...), das ist der Kern meines Theaters.“ Dauerhaft deutlich wurde dieses Konzept einer „dynamischen Transparenz“ (Schlingensief) bei der Kunstaktion 7 Tage Notruf für Deutschland, die im Herbst 1997 erst über die Bühne des Schauspielhauses und dann über die Hamburger Alltagsbühne ging.
Während der Journalist Till Briegleb dieses „Sechs-Tage-Gossen-Oratorium“ noch einmal Revue passieren läßt, versuchen die weiteren Buchbeiträge die Schlingensiefsche Kunst analytisch zu durchleuchten. Dem Filmwissenschaftler Georg Seeßlen etwa erscheint Schlingensiefs „Cinema direct“ als „Inszenierung, die mit dem Nicht-Inszenierten zerfließt“ und damit gewissermaßen post-postmodern.
Mit Schlingensiefs Theaterkunst befassen sich der Theaterjournalist Roland Koberg sowie der Dramaturg und Schlingensief-Mitarbeiter Carl Hegemann. Ähnlich wie Koberg der dramaturgischen „Freak-Fraktion“ eine „verwirrende Melange aus Authentizität und Zitat“ attestiert, preist Hegemann die Paradoxie einer „fiktiven Authentizität, die sich selbst als solche durchschaut“. Wie sich das an der Basis der Theaterproben auswirkt, schildert der Schauspieler Bernhard Schütz. Als Teil des Schlingensiefschen Theaterkosmos' weiß Schütz um die manipulativen Fähigkeiten der leibgewordenen Chaostheorie: „Er verführt Menschen, sich äußern zu können.“
So versammelt Schlingensief! Notruf für Deutschland Beobachtungen der Kontingenzkunst, die sympathisieren, ohne zu idealisieren, und theoretisieren, ohne zu schwadronieren. Sie ermöglichen einen vielseitigen Einblick in das System Schlingensief – und in dessen künstlerische Heilkräfte. Denn so wie Schlingensief die Rollenerwartungen aus den sozialen Rahmen fallen läßt, versorgt er seine Umwelt auch mit der „Erotik sich verlierender Feindschaften“ (Brieg-leb). Vielleicht ist das die karitative Kraft der Kunst – mit Risiken und Nebenwirkungen.
Christian Schuldt
Julia Lochte, Wilfried Schulz (Hg.): „Schlingensief! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief“, Rotbuch Verlag, Hamburg 1998, 176 Seiten, 24,80 Mark
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