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"Unerschütterliche Abneigung"

■ Wassilij Aksjonow ist ein Vertreter der sowjetischen Beat generation der 60er Jahre. Der Sohn Jewgenia Ginsburgs, der seit 1979 in den USA lebt, äußert sich über seine Zeit in der Emigration nach dem Wegfall

taz: Wassilij Pawlowitsch, Sie sagten einmal, daß Sie sich als Heimkehrer sehen. Von vielen werden Sie aber als ein die Heimat bereisender Emigrant betrachtet. Als was fühlen Sie sich?

Wassilij Aksjonow: Die Emigration im eigentlichen Sinne endete mit dem Beginn der neuen Zeit. Heutzutage kann jeder Emigrant ohne weiteres ein Visum bekommen, nach Rußland reisen, und niemand nimmt davon Notiz. Ich erinnere mich allerdings noch an eine Zeit, wo ein Freund von mir zum sowjetischen Konsulat in Washington ging, um ein Visum zu beantragen, und ihm gesagt wurde: „Du wirst hier verrecken, unser Land aber wirst du nicht zu Gesicht bekommen.“ Ich fühle mich nicht wie ein Emigrant, obwohl ich natürlich ein Emigrantenbewußtsein habe: immerhin fast 18 Jahre in Amerika. Die Reisen in die Heimat sind für mich schon so zur Routine geworden, daß ich sie gar nicht mehr registriere.

Was beunruhigt Sie am meisten im heutigen Rußland?

Die zunehmende antiwestliche Stimmung. Und die findet sich leider nicht nur bei der Masse, die gehorsam nachbetet, was ihr oktroyiert wird, sondern auch unter Intellektuellen. Die schwadronieren über den Pragmatismus der Amerikaner und die russische Seele, und keinem von denen kommt es in den Kopf, daß vor allem über den unendlichen Verrat hierzulande gesprochen werden müßte, die unheimliche Brutalität und die millionenhaften Opfer. Man glaubt, das sei schon passiert – genug, es reicht, kommt, laßt uns noch mal „Wolga-Wolga“ [Filmkomödie aus den dreißiger Jahren von Grigorij Alexandrow mit Alexandrows Frau Ljubow Arlowa und dem Komiker Igor Ilinskij], „Das Schicksal des Trommlers“ [Romanerzählung von Arkadij Gaidar, erschienen 1939] und was weiß ich angucken. Im Moment steht eine widerliche, rotznäsige Nostalgie hoch im Kurs, von all den alten Filmen ist der Fernseher schon fast wieder schwarzweiß geworden. Das ist sehr gefährlich. Der Westen aber, der Westen ist unsere einzige Hoffnung... In der Krise rennt man sofort in den Westen nach Krediten, und er hilft. Das hält man schon für selbstverständlich, und es gibt nicht mal ein Gefühl der Dankbarkeit. Ja, sagt doch danke, sagt, daß Rußland ein Teil der westlichen Zivilisation ist! Statt dessen Diskussionen über unsere Besonderheit...

Sie sprachen von Nostalgie, tatsächlich hat sie in der letzten Zeit eklatant zugenommen. Was glauben Sie, weshalb?

Vor allem, weil eine Menge Leute mit der Sowjetmacht vernetzt und ihr zu Diensten waren. Die kurze Perestroika-Zeit vermochte keine grimmige Nostalgie in ihnen hervorzurufen. Als wir jung waren, hieß es: Vorsicht, jeder fünfte in der Runde ist ein Gehilfe der glorreichen Tschekisten. Apropos ein Fünftel der Bevölkerung – das sind ungefähr 35 Millionen, ebensoviel votieren für die Kommunisten. Dazu kommt die Sehnsucht nach dem früheren Leben, die Nostalgie hervorruft: Da gab es ja nicht nur Verhaftungen, sondern auch Liebesgeschichten, persönliche Erfolge und so weiter. Menschlich ist das verständlich. Es mag lustig sein, „Wolga-Wolga“ anzugucken, aber es kann nicht sein, daß die Tausenden von Lagerhäftlingen, die beim Aufbau des Sozialismus ums Leben gekommen sind, vergessen werden; das ist barbarisch! Leider sind die Russen ziemlich zynisch und dekadent. Acht Jahre lang wurde darüber geschrieben, was Sowjetmacht bedeutet und was sie verursacht hat – doch ganz umsonst!

Ist das nicht das Verdienst der Generation der sechziger Jahre? Haben nicht gerade die Sechziger Ansichten wie „Einerseits ist es so, aber andererseits genau umgekehrt“ oder „Das ist eine komplizierte Persönlichkeit, nicht so simpel“ hier eingebürgert – statt ohne Umschweife ein Schwein ein Schwein zu nennen?

Eindeutige Schweine gibt es wenige ebenso wie Heilige. Ich meine nicht die, die den Straforganen gedient haben. Unter den Schriftstellern gab es unglaublich viele Nullen, aber man wird nicht in Abrede stellen wollen, daß eine Null seine eigenen Kinder lieben kann, daß es sie schmerzt, wenn sie einen Bettler sieht...

Das ist natürlich eine sehr zu Herzen gehende Geschichte, die Adoption des Mädchens aus dem Waisenhaus durch Nikolaj Iwanowitsch Jeschow... [der Nachfolger Jagodas soll, so heißt es, in der Zeit des schlimmsten Stalin-Terrors ein Waisenkind adoptiert haben]

Ja. Allerdings verschafft ihnen das keinen Ablaß. Wenn du ein Spitzel warst oder Henker, bleibst du für mich auch einer. Man meint jetzt oft, viele von denen seien Demokraten geworden. Aber ich weiß noch, wie sie redeten, als ich in Amerika ankam, wie sie im Fernsehen ohne Ende was zusammenlogen. Ich zwinge niemandem meine Ansichten auf, ich plädiere auch nicht für Bestrafung. Eine andere Sache ist, daß seinerzeit in Rußland eine Entbolschewisierung hätte durchgeführt werden müssen, ein gründliches und ernsthaftes Gespräch, doch es wurde einfach abgebrochen.

Sie betonten oft, was für eine wichtige Rolle Ihre Mutter in Ihrem Leben gespielt hat. Was hat sie Ihnen beigebracht, das Ihnen bis heute wichtig ist?

Bis zu unserem ersten Zusammentreffen (damals war ich 16 Jahre alt) war ich ein typischer Sowjetjunge aus der Provinz. Sie war erstaunt, wie sie mir sagte, daß ich einigermaßen anständig gebildet war. Ich hatte mich mehr oder weniger auf die Literatur eingeschworen und konnte Gutes von dummem Zeug unterscheiden. Sie aber vermittelte mir einen Einblick ins Silberne Zeitalter: Zur damaligen Zeit, wo selbst Dostojewski aus den Bibliotheken entfernt wurde, war das ein phantastisches Erlebnis. Mir wurde klar, daß es eine sagenhafte Epoche gegeben hatte, die eine beträchtliche Spur in der Kultur hinterlassen hat. Und noch etwas. Wir lebten in Magadan, am Ende der Welt. Unsere Baracke wankte bei jedem Windstoß. Um meine Mutter herum bildete sich ein kleiner Kreis. Ich saß in einer Ecke und lauschte. Das waren Leute, die nichts mehr zu verlieren hatten, bei denen jegliche Angst abgestorben war. Sie repräsentierten echte geistige Freiheit. Bald begriff ich, daß Magadan die freieste Stadt in der Sowjetunion ist. Das alles hatte Auswirkungen auf mein späteres Leben. Ich gehörte zu einer ausgelassenen Studentengruppe, wir taten so, als ob es überhaupt keine Macht gäbe. Man kann sagen, daß wir mit der Beat generation verwandt waren, wobei wir nicht mal von deren Existenz wußten. In den sechziger Jahren war es dann so, daß sie den einen oder anderen zu sich zitierten, und es war klar, daß wir ein gefährliches Spiel spielten. Vor kurzem machte ich mich in einem tatarischen Archiv zu schaffen, wo mir erlaubt wurde, die Akte meiner Mutter einzusehen. Auf einmal fiel ein Zettel aus der Mappe: die Anfrage tatarischer Tschekisten nach einer Kopie der Akte meiner Mutter aus Magadan „in Zusammenhang mit der Einleitung des Vorgangs betreffs deren Sohnes, des Studenten Aksjonow, W.P.“ Hätte Stalin länger gelebt, wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach ins Lager gekommen.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur sowjetischen Realität beschreiben, als Sie zu schreiben anfingen?

Als nicht erschütterliche Abneigung. Mir war jedoch klar, daß ich, wenn ich schreiben und gedruckt werden will, heucheln muß, zumindest teilweise. Das kam einem Axiom gleich, es gab schlechterdings keinen anderen Weg. Ein paar Ideen brachte ich durch, doch unumgänglich waren sogenannte „Schutzmaßnahmen“. In der Erzählung „Kollegen“ [1960, deutsch 1962 „Drei trafen sich wieder“] zum Beispiel fährt der Held aufs Land, um dort zu arbeiten, und leistet edelmütig Hilfe im Kampf gegen die Banditen, ein anderer arbeitet auf einer Baustelle und so weiter, doch Hauptsache waren die Ideen von 1956, die zumindest hier und da durch den Text schimmern. Dann wurde erstmals der „zornige junge Mann“ zum Helden. Ja, ich mußte mich dazu verhalten, daß nur dann einige Sachen durchzubringen sind, wenn das Werk im ganzen wie ein „hiesiges“ aussah. Ich nenne das nicht Zynismus, das war der reale Blick auf die Wirklichkeit.

1963 gab es eine heftige Offensive gegen die Kunst der Nach-Stalin-Zeit und die Literatur im besonderen. Auf einer Versammlung im Kreml griff Chrustschow mich direkt an und schrie: „Wir werden euch zu Pulver zerreiben!“ Alle, die er namentlich kritisiert hatte, wurden später zu Reuebekenntnissen gezwungen. Bei der Zeitschrift Junost sagte man mir dann: „Wenn du keinen Artikel für die Prawda schreibst, werden sie uns zumachen.“ Ich ging zum Chefredakteur der Prawda, er gab mir einige Direktiven. Ich schrieb etwas, was ihm absolut mißfiel, darauf gab es einige Gefechte, und schließlich erschien ein ziemlich widerlicher Artikel. Das war mein persönliches Reuebekenntnis und keins in Stellvertretung für meine Generation. Da stand, daß ich ein leichtsinniger Mensch bin, der die Losungen der Partei nicht versteht. Das war ein eindeutig unschöner Kompromiß, bis zum heutigen Tag erinnere ich mich daran mit Ekel.

Die permanenten Kompromisse und öffentlichen Reuebekenntnisse haben bei vielen einen Knacks im Bewußtsein hinterlassen. Verspüren Sie nichts dergleichen?

Nein. Im Gegenteil, ich wurde noch wütender und entschlossener, ganz klar. Genauso war es auch bei Bulat Okudschawa und Wladimir Woinowitsch. Vielleicht wäre aus Woinowitsch kein Dissident geworden, wenn man ihn nicht zu Reuebekenntnissen gezwungen hätte. Der Akt zu bereuen hat faktisch das Gegenteil hervorgerufen: das Bewußtsein radikalisiert und die Sphäre dessen, was möglich ist, kolossal erweitert. Keine Deformation, sondern die Entdeckung neuer Möglichkeiten und Widerstandskräfte. Von da an ging's dann mit der Macht bergab. Der Einfluß der nachstalinschen Avantgarde war tatsächlich sehr stark. Ich kann eine Menge Negatives über Jewtuschenko sagen, doch was er zur Erschütterung der Grundfesten des totalitären Regimes beigetragen hat, war enorm.

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Vielleicht war sein negativer Einfluß noch gravierender – war er es doch, der in herausragender Weise den Typus des Sowjetintellektuellen prägte, prinzipienlos und im vorgegebenen Rahmen inkonsequent Opposition betreibend, dabei vielfältig verwendbar wegen der Auslandsreisen.

Und dennoch ging von Jewtuschenko eine große befreiende Wirkung aus. Bei dieser Frage gibt es einen wichtigen Punkt, der unbedingt berücksichtigt werden muß. Die Oktoberrevolution als solche war für viele kein offenkundiger Betrug. Mir waren diese Leute fremd, aber Bulat zum Beispiel zählte zu ihnen. „Die Kommissare mit staubigen Mützen“, „Die Komsomolzengöttin“, das sind sehr aufrichtige Lieder.

Sie verließen ein Land, das damals noch literaturorientiert war, in dem ein Schriftsteller mehr war als nur ein Schriftsteller. Hier waren Sie eine Kultfigur, in Amerika dann nur ein Intellektueller unter anderen, die Bücher schreiben. Wie haben Sie das verkraftet?

Meine Bekanntheit zu Zeiten der Sowjetunion war ziemlich zweischneidig. Einerseits gelang es mir, hin und wieder gedruckt zu werden, doch beim Fernsehen ließ man mich nur auf Schußweite heran, ich stand auf der schwarzen Liste. Vor meiner Ausweisung hatte ich lange Zeit keine einzige Veröffentlichung, ich war kein Unbekannter, ein kleiner Ausschnitt aus „Gebrannt“ [scharfer antisowjetischer Roman von W.A., der zuerst in den USA erschien] kursierte im Samisdat. Insofern war ich hier nicht gerade, was die Aufmerksamkeit betrifft, verwöhnt. Als ich in den Westen kam, stürzte sich alles auf mich, die großen Zeitschriften und Zeitungen Amerikas druckten Artikel über mich, machten Interviews. Jetzt ist die Situation eine grundlegend andere: Jetzt bin ich hier sehr populär, selbst auf der Straße erkennt man mich. In Amerika kennt mich ein ziemlich überschaubarer Kreis von Schriftstellern, die sich für Literatur interessieren (es gibt Schriftsteller, die sich nicht für Literatur interessieren). In diesem Kreis genieße ich hohes Ansehen. Über einen Bekanntheitsgrad darüber hinaus was zu sagen, ist nicht möglich, die Amerikaner kennen ihre Schriftsteller nicht. Das ist durchaus kein literaturorientiertes Land. Es gibt eine amerikanische Redensart: „Das ist doch nur ein Buch.“ Dennoch werden 25.000 Exemplare von jedem meiner Bücher verkauft, und es gibt eine Gruppe von Leuten, die mich liest.

Inwiefern ist heute der Buchmarkt in Rußland mit dem amerikanischen vergleichbar?

Mit einigen Abstrichen ist er es. In den USA gibt es nicht solche einflußreichen Literaturzeit- schriften wie in Rußland, eine rein literarische Zeitschrift kann man dort nur in der Universität herausbringen. Der „Pulp fiction“-Markt ist unglaublich groß, wird auch „Billigramsch“ genannt. Sämtliche Klassiker werden verlegt, Sie können jeden beliebigen Philosophen, jedes Kunstbuch finden. Es ist merkwürdig, das Bücher-Busineß, dem schon so oft der Tod vorhergesagt worden ist, bekommt in Amerika immer neue Triebe, man baut ein riesiges Bücherkaufhaus nach dem anderen. Es stellt sich heraus, daß die Leute sich wie früher gern mit einem Schmöker zurückziehen. Und überhaupt gibt es dort eine Welle der sich differenzierenden Kulturproduktion (worüber in Rußland übrigens ungern gesprochen wird), deutlich ausgewiesene unterschiedliche Nischen: wähle selbst.

Was glauben Sie, gibt es in der Literatur etwas Sakrales?

Ich bin fest davon überzeugt, daß es große Bücher gibt, die eine Verbindung zur Sphäre des Unsichtbaren unterhalten. Zum Beispiel Dantes „Göttliche Komödie“. Ich bin überzeugt, daß er dort war, zurück- oder wieder zu sich gekommen ist und sein Buch geschrieben hat. Ich glaube, er hat es „Komödie“ genannt, weil es unmöglich ist, mit Worten wiederzugeben, was er gesehen hat, und dennoch versucht er, es zu tun, darum ist es auch eine „Komödie“ geworden. Oder Dostojewskis „Traum eines lächerlichen Menschen“. Dostojewski war Epileptiker, doch von einem bestimmten Punkt an begriff er mit einem Mal, daß der nächste Schub kommt, weil ihm während eines Anfalls ein Augenblick der Erleuchtung kam (es kann auch sein, daß dies länger dauerte), in dem er vom Leben alles begriff und er die Ursache von allem erkannte. Ich vermute, „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ ist nach so einer Reise geschrieben worden. Dort gibt es den Satz: „Ich weiß, daß ich Ihnen nichts darüber sagen kann, und dennoch werde ich davon sprechen...“ Wenn man in mein Alter kommt, sondiert man die Werke daraufhin, ob sie mit der eigenen Wahrnehmung der Welt übereinstimmen. Und je älter du wirst, desto merkwürdiger kommt dir die Welt vor. Interview: Sergej Schapowal

Das Gespräch mit Wassilij Aksjonow erschien in der Moskauer „Njesawissimaja Gaseta“. Übersetzung aus dem Russischen: Cornelia Köster

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