: Steckrübenrevolte
■ Volker Ullrich erklärt heute den Bremern wie es auch in Bremen, Hamburg, Kiel zu dem kommen konnte, was sich heute rühmend Novemberrevolution nennt
Seltsam hymnisch-melancholisch blicken selbst die lauwarmsten, halbherzigsten Linken heute meist auf die kurze Zeit der Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19 in Bayern aber auch in Norddeutschland zurück. Einmal träumte selbst unser spießiges Deutschland von der radikalen Veränderung. Historiker Volker Ullrich erzählt in seinem neuen Buch „Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution“ von den Richtungskriegen innerhalb der norddeutschen Linken, die für diese waschechte Revolution verantwortlich waren, mehr aber noch für ihr schnelles Scheitern. Den „sozialdemokratischen Disziplinbegriff“, jenes Abducken unter die staatstragenden Parteibosse, macht er verantwortlich dafür, daß Pazifismus und Sozialismus, die in der Parteibasis durchaus lebendig waren, in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt werden konnten; – nicht nur bei der Abstimmung über die Kriegskredite am 4. August 1914 (einzig Karl Liebknecht stimmte innerhalb der SPD dagegen), sondern in der ganzen Politik bis Kriegsende und in der Weimarer Republik. Eigentlich eine höchst bemerkenswerte Beobachtung in einer Zeit, in der die vielbeschworene Parteidisziplin bei den aktuellen Koalitonsverhandlungen und Grünen/SPD-Parteitagen bis in die taz hinein so ungebrochen euphorisch gelobt werden: Wie ahistorisch doch oft politische Einschätzungen sind.
„Kein Zweifel: Die große Mehrheit der 68.000 (!) organisierten Hamburger Sozialdemokraten war gegen den Krieg“, heißt es bei Ullrich auf Seite 12 in Zusammenhang mit pazifistischen Versammlungen am 28. Juli 1914. „Zweifelsohne stieß die Bewilligung der Kriegskredite bei einer Mehrheit der Parteimitglieder auf Zustimmung, und zwar deshalb, weil sie ... der Überzeugung waren, ... sich einer russischen Aggression erwehren zu müssen“, irritiert Ullrich nur zehn Seiten später. Zweifelsohne wachsen hier dezente Zweifel an seiner Analyse der komplizierten Seelenlage einer Partei in komplizierten Zeiten. Sehr schön allerdings zeigt er, wie ein Netz von Polizeispitzeln, Postüberwachung und Versammlungsverbot der eh schon heillos zersplitterten linken Opposition innerhalb der SPD das Leben schwer machte und wie die Mehrheits-SPD dem Staat bei diesen Unterdrückungsmaßnahmen sogar noch zur Seite stand. Zum Beispiel löste die SPD ihren lästigen, radikalpazifistischen Hamburger Jugendbund kurzerhand auf. Schon im März 1915 sollten ausgerechnet in der vermeintlich linken Hochburg Hamburg sowohl die Luxenburg/Liebknecht-Nahen als auch die Kautsky-Nahen aus der Partei geekelt werden. Der Staat übernahm diesen Drecksjob viel effektiver, indem er radikale Hamburger wie Heinrich Laufenberg oder Fritz Wolffheim an die Front abschob.
Daß trotz Staatsterror und jenes verhängnisvollen „sozialdemokratischen Disziplinbegriffs“ dennoch im Januar 1918 die Zeit reif war für umfangreiche Streiks in den kriegswichtigen Werften (v.a. Bremer AG Weser, Hamburger Vulcan und Kieler Germania-Werft) und im November sogar die traditionelle Parteiendemokratie hinweggespült werden sollte, ist Schuld der Steckrübe. Die vielbeschworene Kriegseuphorie der Deutschen war von Anfang an sehr brüchig und wurde es zunehmend mehr durch steigende Lebensmittelpreise und Warteschlangen schon wenige Tage nach der Mobilmachung. Obwohl ab dem 22.3.1915 Brotmarken ausgegeben wurden, war die Ernährungssituation erstens desaströs, zweitens heillos ungleich. Und unfreiwillige Steckrübensuppenesser entwickeln eben ein schärferes Gespür für soziale Ungerechtigkeit als deutsche Eintopfesser. Bis zu 300.000 Hamburger (immerhin ein Drittel) waren auf den als Demütigung empfundenen Saufraß der „Volksküchen“ angewiesen. Sehr schön beschreibt Ullrich die Geburt der politischen Utopie aus dem Hungerödem, gerade bei den schwerschuftenden Werftarbeitern. Quintessenzen des Buchs: Schröders Neue Mitte ist so neu nicht – Anpassungsdruck lastete schon mal viel drückender auf der SPD. Und linke Bremer Zeitungen („Bremer Bürgerzeitung“) waren schon immer besser und radikaler („Hamburger Echo“) als die der Hamburger. Barbara Kern
Donat Verlag, 29.90,-. Lesung: 3.11. 20 Uhr, Stadtbibliothek, Schüsselkorb
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