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■ Mehr Psychoanalyse wagen: Vom Dialog als Dienstleistung

„Da müßte man unbedingt mal drüber reden!“ (Gast einer Talkshow zum Thema „Selbsterfahrung“)

In der vorübergehend ausgesetzten Sowjetunion ist das „Recht auf Verzweiflung“ durchgesetzt, in Amerika herrscht dagegen nach wie vor ein durchgehendes Glücksversprechen. Im immer noch unentschieden balancierenden Berlin wimmelt es von Psychotherapeuten. Soeben stellte die BZ – analog zum Universitäts- Ranking des Spiegel – die „25 besten Wunderheiler der Stadt“ vor. Ein ungarischer Freund von mir hat in seiner psychotherapeutischen Praxis in Kreuzberg nicht weniger als 80 Nationalitäten bzw. Ethnien unter seinen Patienten. Umgekehrt kann hier ein Seelenheilung Suchender zwischen über 100 psychologischen Behandlungsmethoden und Schulen wählen. Die Praxen konkurrieren sich immer preiswerter: Für eine Stunde zahlen die Kassen in Berlin 72 Mark, in Bayern 145.

Wiewohl dem Eigenanteil bei den Kosten der Kur durchaus eine heilkräftige Wirkung zugesprochen wird, wurde heftig um ihre Übernahme durch die Krankenversicherungen (i. e. Gesundheitskassen) gerungen. Dieser Kampf begann mit Ende der Studentenbewegung, die ihren kollektiven Antiautoritarismus psychoanalytisch fundierte. Für Ulrich Sonnemann waren alle Westdeutschen (auf ihrer „850-Kilometer-Couch“) reif für eine „Talking-Cure“. Anfang 1999 ist es nun so weit, daß ein Großteil der Psychologen „anerkannt“ werden soll. Dabei handelt es sich um psychologische Psychotherapeuten, die nach einer ordentlichen Approbation Ärzten rechtlich gleichgestellt sein werden.

Meiner möglichen Therapeutin Helgard Passow sieht man an, daß sie sich auf wunderbare Weise sogar selbst heilen kann, was bereits für ihr therapeutisches Können wirbt. Sie erwarb ihr Diplom vor über 20 Jahren an der FU und ging dann ins Zentrum der Antipsychiatrie nach Triest – zu Bassaglia. Als ihr das ewige „Reden“ zu viel wurde, suchte und fand sie einen japanischen Ausbilder in Shiatsu (wörtlich: Fingerdruck): M. Ohashi. Der Wunsch nach Psychotherapie breitete sich derweil bis in die unteren Mittelschichten aus. In den letzten Jahren haben zudem familiale Aggressionen, Ängste vor Arbeitskollegen, Panikreaktionen, Eßstörungen und Hautkrankheiten zugenommen: „eine durchgehende Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit“.

Dipl.Psych. Passow, die heute neben sanfter Bioenergetik und Orgontherapie auch Babymassage anbietet, bekommt viele „Fälle“ über Geburtshäuser und Bezirksämter bzw. Schulämter „überwiesen“, mitunter auch von Ärzten. Das hilft ihr nun bei der Approbation, für die sie 4.000 Stunden „Praxis“ oder 60 abgeschlossene und dokumentierte Fälle nachweisen muß. Dazu kommt noch die Kassenzulassung nach einem Richtlinienverfahren.

Zwischen 1982 und 1990 entwickelten sich etliche Shiatsu- Schulen in Berlin. Helgard, bis heute allen Schulen abhold, lernte damals Seiki (wörtlich: Ordnen von Lebensenergie) beim Shiatsumeister A. Kishi in Paris: „Er trifft sofort den Punkt und man spürt: Ja, da ist er!“ Außerdem ließ Helgard sich noch von Eva Reich (der Tochter von Wilhelm Reich) beeinflussen und gründete mit einer Freundin zusammen einen Frauen-Karateverein.

Auch daß sie nach und nach drei Kinder bekam, die sie mehr oder weniger alleine großzieht, war sicher nicht ohne lehranalytische Wirkung. Und sie kann prima kochen! In den achtziger Jahren hatte sie ihre Praxis in einem Haus mit Obstgarten in Tegel, wo sie gleichzeitig eine kleine Pension betrieb. Dann veranstaltete sie Kurse auf Kreta. Ihre Prospekte sind seitdem mit Naturpoesie gespickt.

Turgenjew hatte eine Vorliebe für Frühlings- und Sommerlandschaften, Tschechow für regnerisches Wetter und Nebel; Gorki schilderte die Natur gerne bunt und feierlich, während Tolstoi die Naturbilder im Gleichklang zur Seelenverfassung seiner Patienten (Helden) brachte. Helgard Passow geht, glaube ich, genau umgekehrt vor, wobei es ihr darauf ankommt, die Entwicklung einer „Körperintelligenz“ zu befördern – und bei der Lösung von Energieblockierungen immer weniger zu „werten“. Sie nennt das: „Einfach in Resonanz gehen!“ Ihre jetzige Praxis ist eine Wohnung in der Koblenzer Straße 21, zwei Etagen höher lebt sie auch mit ihren Kindern plus einem Hund, und oft, sagt sie, ist das Behandeln unten weniger anstrengend als der Alltag oben. Sie schaffe eigentlich nur einen Raum – zur Sensibilisierung der Selbstwahrnehmung: „Ich will das gar nicht unbedingt Therapie nennen.“

Kürzlich schrieb sie dem Bonner Gesundheitsminister einen bitteren Brief – u.a. heißt es darin: „...stellen Sie sich doch bitte einmal einen Menschen – am besten sich selbst – in einer akuten Krisensituation vor, in der Sie z.B. von einer dunklen Wolke lebensfeindlicher Gedanken und Arbeitsunfähigkeit umhüllt sind, mit letzter Kraft Hilfe bei einem Therapeuten suchen und nach einigen gescheiterten Versuchen auch finden. Dieser ist jedoch von der Kasse nicht zugelassen, obwohl er in einem von ihr selbst herausgegebenen Verzeichnis aufgeführt wird. Sie bekommen nun – in Ihrem Zustand tiefster Hoffnungslosigkeit – eine neue Liste, mit der Sie sich erneut auf die Suche begeben sollen...“ Helgard hält die bisherige Kostenübernahmeregelung für zu rigide – und die Bewilligung etwa einer 25stündigen „Krisenintervention“ für eine kostensparendere Gesundheitsförderung als ihre Ablehnung. Helmut Höge

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