Sodbrennen durch US-Hühnerbeine

■ Nahrungsmittelhilfen aus den USA lösen in Rußland vielfach Wut und Empörung aus. Dabei droht in manchen Regionen der Hunger

Moskau (taz) – Dieser Tage erklärte US-Landwirtschaftsminister Dan Glikman, die amerikanische Regierung sei von der russischen offiziell um Nahrungsmittelhilfe ersucht worden. Es gehe dabei um „bedeutungsvolle Mengen“. Gleichzeitig kündigte die Regierung in Moskau eine weitgehende Senkung der Lebensmittel- Einfuhrzölle an.

Diese Nachrichten verursachten in der russischen Presse eine Sturm der Empörung. „Wir ernähren den Westen, indem wir seine überflüssigen Lebensmittel abnehmen“, titelte zum Beispiel die Tageszeitung Nowje Iswestija. In dem Artikel heißt es: „In der heutigen Situation sind sowohl Europa als auch die Vereinigten Staaten in eine starke Abhängigkeit vom allesverschlingenden russischen Markt geraten, der zuletzt die Hälfte der von unseren Mitbürgern benötigten Lebensmittel für eine Summe von jährlich zwölf Milliarden Dollar importierte.“

Daß die Westimporte dank der Rubelkrise seit August ausbleiben, hat in Rußland schon zu einer Teuerung geführt. Einige einheimische Lebensmittel kosten heute doppelt soviel wie vor der Krise. Die russische Öffentlichkeit erblickt darin aber auch eine Chance für die eigene Landwirtschaft. Deren Produkte hatten bisher einen schweren Stand gegen die westliche Konkurrenz.

Im Widerspruch zum Rest des Kabinetts erklärte deshalb Landwirtschaftsminister Semjonow: „Ein Nahrungsmitteldefizit zeichnet sich bei uns heute nicht ab. Den drohenden Hunger haben uns die westlichen Produzenten bloß eingeflüstert.“

Die Tageszeitung Komsomolskaja Prawda bat den Verbraucherklub des Moskauer Instituts für Agrarmarktkonjunktur um eine Analyse der Versorgungslage und kam zu dem Schluß: „Ein richtiges Defizit erwartet uns nur auf dem Rindfleischsektor. Aber dafür: Hurra, die Krise hält für uns eine Nische bereit, die bisher die amerikanischen Hühnerschenkel besetzten.“

Auch ohne amerikanische Importe, so beruhigt die Tageszeitung Nesawisimaja Gaseta ihre Leser, würden die russischen Hühnerfleischpreise nicht in den Himmel steigen. Die Amerikaner äßen ihre – in Rußland nach dem amerikanischen Expräsidenten „Bush-Beinchen“ genannten – Hühnerschenkel nur nicht gern selbst, weil man davon Sodbrennen bekäme.

Trotzdem droht in Rußland Hunger – nämlich in jenen Regionen, in denen die Bevölkerung wegen der klimatischen Bedingungen keine eigenen Gemüsegärten unterhält. Und in allen Institutionen, die vom Staat unterhalten werden müßten – wie Waisenhäuser, Gefängnisse und die Armee. Kapitän Wiktor Andrejew, Kommandeur eines Atomunterseebootes mit 16 ballistischen Raketen in der Region von Murmansk, löste das Problem letzte Woche auf eigene Weise. Seine Leute konnten sich nicht einmal mehr Kartoffeln leisten. Andrejew fuhr in die westrussische Stadt Brjansk, die eine Patenschaft für sein Boot übernommen hatte. Er kehrte mit 20 Tonnen Kartoffeln, Kohl und Knollenfrüchten heim. Der Kommandeur ist aufrichtig dankbar, würde es aber vorziehen, wenn die Regierung ihre Soldaten versorgte: „Betteln“, sagte Andrejew, „gehört eigentlich nicht zu meinen Dienstobliegenheiten.“ Barbara Kerneck