Ohne Make-up in die Unterwelt

Musik machen ist manchmal besser als Schauspielerin sein: Meret Becker begibt sich auf ihrem Chansonalbum „Nachtmahr“ in dunkle Traumwelten und beweist ein natürliches Talent für den Horror  ■ Von Kirsten Niemann

Wie ein kleines Mädchen wirkt Meret Becker, wie sie sich da im bequemen Schneidersitz auf dem Sofa lümmelt. Kindlich und selbstbewußt zugleich, mit ihren glatten Haaren, die zu dünnen Zöpfchen geflochten sind. Frisch sieht sie aus und ungeschminkt; kontrastiert wird der Eindruck von dem riesigen, rot bemalten Knutschmund.

Gelegentlich nippt sie an einem Glas Wasser, die Hände ruhen auf ihrem Bauch. Das ist ungewöhnlich. Schließlich ist sie dafür bekannt, daß sie Alkohol und Zigaretten gern in großen Mengen konsumiert. Doch Laster wie diese sind in nächster Zeit tabu: Meret Becker wird in zwei Monaten das zweite Mal Mutter. Und sie ist topfit. Seit acht Stunden gibt die Hochschwangere nun schon Interviews, um ihr neues Album „Nachtmahr“ zu promoten.

Sie schnattert wie eine Berliner Hauswartsfrau

Von Ermüdungserscheinungen keine Spur: Sie schnattert mit dem Engagement und der Leidenschaft einer Berliner Hauswartsfrau beim Flurwischen. „Chansons“, sagt Meret Becker, „sind nicht einfach nur französische Lieder, sondern der Ausdruck für eine musikalisch erzählte Geschichte.“

Es ist ihre Art, mit Bildern zu erzählen. Diese Haltung zeigte sich eigentlich schon bei ihren ersten Auftritten als 17jährige im Schöneberger Scheinbar-Varieté, wo sie lieber zwischen Jongleuren und Komikern zwei Jahre lang immer das gleiche Lied („Sister“) sang, als das Abi zu machen. „Ich bin damals runter von der Schule, weil ich kleben geblieben bin. Ich wußte, daß die Schule mir keinen Spaß macht“, erzählt Becker. „Sie wollen dir da nur beibringen, daß du zu gehorchen hast.“

So groß wie der Widerwille gegen die Schule war ihre Selbstsicherheit. Die Schauspielschule hielt sie nämlich für genauso überflüssig: „Früher waren die Schauspieler noch unheimlich jung, wenn sie angefangen haben. Heute werden sie 18, machen nach der Schule erst einmal ein Jahr blau, gehen dann zur Schauspielschule und sind 23, wenn sie fertig sind.“ Meret Becker behielt es sich vor, eine Marktlücke zu sein. „Mit 17 konnte ich eine 13jährige genauso spielen wie eine 23jährige.“ Nach der Scheinbar folgten also jede Menge Filmrollen für Sönke Wortmann, Dominik Graf, Doris Dörrie und Margarethe von Trotta. Doch gleichzeitig bastelte sie an eigenen Programmen für Locations wie das Chamäleon, das Varieté im Quartier und die Bar jeder Vernunft. Im Moment sei ihr die Musik wichtiger als die Schauspielerei, sagt sie.

Während Beckers musikalisches Debüt „Noctambule“ aus dem Jahr 1996 noch eine Sammlung überarbeiteter Coverversionen war, hat sie dieses Mal für alle 13 Lieder von „Nachtmahr“ (produziert übrigens von Alex Hacke, ihrem Gatten) selber zur Feder gegriffen. Die Geschichten gehören dabei vor allem zum Genre der Schauergeschichten: Zum Beispiel in dem Lied „Das blanke Wesen“, welches durch die geöffnete Schädeldecke in Kopf und Augenhöhlen eines kleinen Jungen eindringt.

Zum Gruseln ist auch die Ballade vom kleinen Meretlein, die einer Erzählung aus Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ entnommen ist: ein Lied über ein kleines Mädchen, „das sie fertig gemacht haben“, vorgetragen von Becker und ihrem Adoptivvater Otto Sander. Während die sonore Stimme Otto Sanders wie die des klassischen Märchenonkels klingt, spricht Meret Becker mal mit kindlich hohem Piepsstimmchen, mal mit der dunklen Stimme einer reifen Frau.

Irgendwie befremdlich ist auch das Stück über die Kindfrau „Lolita“, das „reinste Luder, das ohne Make-up und Puder schmollend den Tod sah“. Eine Geschichte, die über Nabokovs literarische Vorlage hinausgeht, denn „wenn die Beine Hüften bekommen, dann ist der Kindfrau die Lolita genommen“. Und: „Nicht alle werden Diva oder Femme fatale, manche altern sehr banal“, heißt es da in den letzten Zeilen, die Becker mit dünnem, hohem Vogelstimmchen herunterleiert wie einen Kinderabzählreim.

Keine Frage, die Frau hat ein natürliches Talent für den Horror. „Abgesehen davon, daß ich einen Hang zu düsteren Dingen habe“, erklärt Becker, „interessieren mich diese Traumwelten. Es sind ja irreale Zustände, die die meisten Leute schnell wieder vergessen haben. Doch meistens sind es Kinderträume oder Alpträume, die hängenbleiben.“

Das Chanson, wie Meret Becker es singt, ist eigentlich auch nie besonders glatt oder gar glamourös. Es ist vor allem mit Geräuschen verbunden. Der Klang der singenden Säge, die immer mal im Hintergrund wimmert. Oder das Scheppern zerschmetternder Glasflaschen. Oder die simplen Melodien einer Spieluhr oder die Klavierpassagen, die – wie bei den alten Stummfilmen – die Spannung der Erzählungen steigern. Dennoch ist kein Ton zuviel.

Mal Diva, mal wisperndes Mädchen

Wenn Meret Becker ihre Lieder auf französisch singt, fährt die Stimme in den Keller, klingt ganz rauh und tief mit einem unsäglichen deutschen Akzent, wie es etwa die Knef oder die Dietrich schon getan haben. Doch die Ähnlichkeit zu diesen Diven gerät spätestens dann wieder in Vergessenheit, wenn sich ihre wispernde Kleinmädchenstimme wieder meldet. Der permanente Wechsel ihrer Stimmlage ist übrigens eine Marotte, und zwar nicht nur auf der Bühne. Sie redet immer so. Als schlüpfe sie während eines Gesprächs gleich in verschiedene Rollen. Das klingt lustig. Und sonderbar zugleich. Man kann es sich schon vorstellen, wie sie später ihre Kinder mit Gutenachtgeschichten das Fürchten lehrt: „Kinderstimmen kommen einfach geil beim Horror. Mit Geistern und anderen Untoten verbindet man schließlich immer kleine Kinder.“ Erwachsene sind da wohl viel zu irdisch.

Meret Becker: „Nachtmahr“ (Philips Classic/Polygram)