: Ein Sprung vom Zehnmeterturm
Noch gibt es mehr Handwerker als Mieter am Potsdamer Platz. Einer der wenigen Bewohner ist der Münchener Zukunftsforscher Walter Kroy ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova
Walter Kroy hat den totalen Durchblick. Von seinem Wohnzimmer im vierten Stock blickt er genau zwischen den beiden Gebäudehälften der Volksbank hindurch, bis hin zu den Baumwipfeln am Kanalufer. „Wegen des Durchblicks wollte ich die Wohnung“, sagt er.
Mit dem 58jährigen ist ein Mieter am Potsdamer Platz eingezogen, der gut ist fürs Image für einen Platz, von dem keiner so richtig weiß, wie er sich entwickeln wird. Der Mathematiker und Physiker ist Zukunftsforscher. Blickt Kroy, der für Banken und Konzerne Visionen entwickelt, aus seiner 78 Quadratmeter großen Eigentumswohnung, ist es ein Blick in die Zukunft. Auch in die des Potsdamer Platzes. „Das ist ein Platz, von dem könnten Impulse ausgehen“, sagt er. Am 1. Oktober ist Kroy als einer der ersten Mieter in das Grimm-Haus Nummer 1 eingezogen.
Einen Tag vor der offiziellen Einweihung des Platzes. Auf den Tag genau sieben Jahre nach der Entscheidung des städtebaulichen Wettbewerbs. Fünf Wochen nach dem pompösen Eröffnungsfeuerwerk verliert sich Kroys Name noch immer neben fünf anderen auf dem Klingelschild für insgesamt sechzig Namen. Steigt er in den Fahrstuhl, muß er sich wie in einer Puppenkiste fühlen. Die Sperrholzwände sind notdürftig mit zusammengetackerten roten Stoffwänden abgedeckt. Macht er die Flurtüren im Zwischengeschoß auf, drückt er Türklinken, an denen noch der Plastikbezug klebt. Betritt Kroy seine Wohnung mit dem hellen Parkettboden, hallen seine Schritte in den halbleeren Räumen.
Das Arbeitszimmer ist bis auf das Buch „The Discoverers“ auf dem Fensterbrett und einige wenige Utensilien noch leer. Nur die Einbauküche, das Bad und das Schlafzimmer sind komplett. Doch Kroy stört sich nicht an den Provisorien, die ihn an Studentenzeiten erinnern. Nicht einmal die häßliche graubraune Farbe des gegenüberliegenden Volksbank-Gebäudes kann ihm die Laune verderben. „Die ändert sich hoffentlich im Laufe der Zeit“, sagt er.
Im Wohnzimmer begnügt sich Kroy vorerst mit zwei Klappstühlen und einer Tischplatte auf Holzböcken. Darauf hat er eines seiner wichtigsten Arbeitsutensilien, eine eigene Erfindung, installiert: ein Pendel. „Eigentlich total berechenbar“, sagt er. Doch als er eine der Schrauben löst, fällt das Pendel in drei miteinander verbundene, bewegliche Teile auseinander, die sich ohne Beachtung jeglicher physikalischer Gesetze wie wild umeinanderbewegen.
Auch Kroy pendelt. Zwischen Bayern und Berlin. In Berlin ist er nur tageweise, den Großteil seiner Zeit verbringt er auf dem Lande in der Nähe von München. „Dort ist mein Schwerpunkt“, sagt er. Dort, wo er die Alpen vor der Haustür hat, wo seine Frau und seine Kinder leben. Es ist der Kontrast, der ihn an den Potsdamer Platz gezogen hat. Und nun, da Kroy immer öfter dort übernachtet, sagt er: „Hier bin ich zu Hause, weil ich hier schlafe.“
Steht Kroy auf seinem Balkon, kann er den Arbeitern zusehen oder den Berlinern, Touristen und Schulklassen, die Tag für Tag kommen, den Platz zu besichtigen. Oder diese schauen ihm beim Zuschauen zu. Obwohl Kroy seine Nachbarn an wenigen Fingern abzählen kann, fühlt er sich nicht allein im Grimm-Haus. Kroy ist das, was man einen vielbeschäftigten Mann nennt. Den Neueinzug eines Mieters bemerkt er lediglich, wenn jemand einen Blumenkübel vor die Terrassentür stellt oder wenn eine Lampe in einer Wohnung angeht, die bisher dunkel war. Auch ohne große Mieterkontakte weiß Kroy: „Es verbindet einen, hier zu wohnen.“
Während die 300 Eigentumswohnungen größtenteils Anlageobjekte sind, haben sich für die 300 Mietwohnungen die verschiedensten Berufsgruppen beworben. Nach Angaben von Benita Hahm- Kraetz von der Agentur für Communication sind unter den 450 Bewerbern Rechtsanwälte, Journalisten, Architekten, Ärzte, Schauspieler und Manager, die für Mietpreise zwischen 18 und 25 Mark pro Quadratmeter im Herzen der Stadt wohnen wollen. Hahm- Kraetz geht davon aus, daß die meisten Wohnungen bis Weihnachten bezogen sein werden.
Wie bei vielen Westdeutschen fing Kroys Begeisterung für die Stadt mit einem Berlinbesuch kurz nach dem Mauerfall an. „Da bin ich ein bißchen Fan geworden“, sagt er. Die Historie des Platzes im alten Stadtzentrum der ehemaligen Reichshauptstadt, der in den zwanziger Jahren der verkehrsreichste Platz Europas war, hat ihn schon immer interessiert. „Berlin ist wie eine kleine Globalisierung“, sagt Kroy. „Der Raum bis Hannover und zur Ostsee wird zum Marktplatz Europas so wie die deutsche Hanse. Es wird mehr Pfeffer und kulturelle Spannung geben“, lautet seine Prognose.
Doch so ganz ist Kroy selbst noch nicht im Jetzt und Heute von morgen angekommen. Obwohl er in den Geschäften am Potsdamer Platz einkauft und gelegentlich in einem der Restaurants ißt, ist er seiner alten Zeitung treu geblieben, der Süddeutschen. Berliner Zeitungen liest er nur „im Vorbeigehen“. „Die Nabelschnur aus dem Süden hängt mir noch an“, sagt er, und es klingt fast entschuldigend. Daran wird sich wohl so schnell auch nichts ändern. Denn daß die Berliner anders sind, hat der gemütliche Süddeutsche schon gemerkt. Während er Hemmungen habe, sich unter die vielen Menschen direkt vor seiner Haustür zu mischen, „stürzen sich die Berliner wie von einem Zehnmeterturm rein ins Gewimmel am Platz“, so sein Eindruck. Auch hat er beobachtet, daß „die einen schimpfen, daß früher alles viel besser war, und die anderen sagen, ja, das ist das weltoffene Berlin“. Walter Kroy erzählt, daß etwa 60 Prozent der Deutschen keine Veränderungen wollen. Er schüttelt sichtlich befremdet den Kopf und zitiert einen chinesischen Fluch: „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“
Kroy gehört nicht zu den Zauderern. Er macht Nägel mit Köpfen. Auf dem Balkon seiner Wohnung hat er eine Steckdose installieren lassen, damit er im Sommer beim Frühstück den Toaster anschließen kann. Und er hat eine Firma gegründet, natürlich in Berlin-Mitte. Es geht um Software im Gesundheitswesen, um Kostensenkung und bessere Hilfe für Patienten. Dreißig Arbeitsplätze will er schaffen. Vorerst hat er Büroräume im teuren Busineß-Center am Checkpoint Charlie angemietet. „Im CC“, wie es der Süddeutsche nennt, der sich damit als Ortskundiger zu erkennen geben will, nur daß hier niemand vom „CC“ spricht.
Egal, es geht um Visionen. Und da liegt Kroy hoffentlich richtig: „Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, daß der Potsdamer Platz das Herz Berlins wird“, sagt er. „Aber ich hoffe, er wird sich lebendig entwickeln.“ Nur eine „Horrorvision“ hat der Innovationsforscher: Daß der in die Stadtlandschaft fertig hingestellte Platz sich nicht mit Leben füllt.
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