: Schrippenkrieg
■ Gründungsfaulheit als Unterstellung: Ökonomische Feldforschung in Friedenau
Der müßigen Klasse, den planlosen Eliten und den reformunwilligen Institutionen einmal gehörig den Marsch zu blasen verheißt seit geraumer Zeit gesteigerte Aufmerksamkeit in Talkshows, Zeitungsredaktionen und Verlagen. Zu der Geste politischer Ernsthaftigkeit gesellt sich eine neoliberale Laxheit. So bezichtigte Herbert Henzler von der Wirtschaftsberatung McKinsey und Co, der eben erst seine wirtschaftlichen Erkenntnisse mit Lothar Späth zusammen in einem Buch aufgeschrieben hat, die Bundesbürger einer beispiellosen Gründungsfaulheit. „Wir haben nicht zuwenig Arbeit, wir haben zu wenige Unternehmer.“
Der Satz ist ein Indiz für die erstaunliche Karriere des Sozialtypus Unternehmer, den die Kulturrevolution doch auf Dauer desavouiert zu haben schien. Henzlers flottem Plädoyer, das er durch einige Gemeinplätze samt empirischem Material abzustützen versteht, sind allerdings ein paar Beobachtungen aus Berlin-Friedenau entgegenzuhalten: Geschäftsgründungen, wohin man schaut. Es begann vor gut zwei Jahren mit der türkischen Konkurrenz für den einheimischen Bäcker, der, der Berliner Tradition seines Handwerks folgend, nur pappiges Kauwerk zustande bringt. Die Brötchenqualität wurde durch den türkischen Bäcker zwar nicht gehoben, aber immerhin hatte der sonntags geöffnet.
Eine deutliche Schrippenverbesserung setzte dann ein italienischer Feinkostladen durch, der ebenfalls von einer türkischen Familie betrieben wird. Ein paar Wochen später tauchten noch bessere Schrippen auf: in einem Zeitungskiosk. Zur Diversifikation des Warenangebots wurden dort auch Schnaps und Kinderspielzeug gereicht. In den Friedenauer Bäckerkrieg war inzwischen Bewegung gekommen. Die wachsende Konkurrenz trieb den Innungsbäcker dazu, seinen Laden ebenfalls am Sonntag geöffnet zu halten. Irgendwann trat die Gewerbeaufsicht auf den Plan, und dem Zeitungskiosk wurde der Vertrieb von Backwaren untersagt, was sich verheerend auf den Restverkauf auswirkte. Seither hat der Kiosk bereits zweimal den Inhaber gewechselt, während es beim türkischen Bäcker sonntags auch Zeitungen gibt. Ein Verebben des Gründungseifers ist nicht in Sicht.
Seit Kohl seinerzeit eine neue Selbständigkeit anempfahl, schießen in Friedenau die Design- und Weinläden aus dem Boden. Eben erst ist einer in einen Computerladen eingezogen, der kurz zuvor ein Elektrogeschäft abgelöst hatte. Nebenan hat ein Diving-Center eröffnet, in dem es alles für die Tiefseetaucherei zu kaufen gibt. Unter dem Pflaster liegt noch immer viel Meer und Strand. In unmittelbarer Nachbarschaft wird ferner ein Kneipenkrieg ausgetragen, in dessen Verlauf sich unlängst ein rätselhafter Lokalbrand ereignete. Es geht dabei um ein „first australian pub“, das, wie erste Recherchen ergaben, mit einem anderen Pub um das Berliner Erstgeburtsrecht streitet. Nach dem Feuer eröffnete ein weiteres Downunder-Restaurant auf der anderen Straßenseite.
Freie Ladenfenster stimulieren weitere Geschäftsideen, und an regem Business scheint es nicht zu mangeln. Ein Architekt, der sein Büro in einem Ladenlokal untergebracht hat, weiß zu berichten, daß er vor lauter Laufkundschaft, die hinter seinem Milchglasschaufenster die erstaunlichsten Dinge vermutet, nicht zum Arbeiten kommt, weil ständig Interesse an seinem Laden bekundet wird. Außerdem nimmt er noch für die gesamte arbeitende Nachbarschaft die Post an und regelt andere Instandhaltungsangelegenheiten.
Neben der neuen Selbständigkeit der 90er Jahre gibt es aber auch noch die der 70er, als selbstbestimmtes Tagwerk das höchste Gut war. In den einschlägigen Kreisen sind ein Buchantiquariat und der benachbarte Modelleisenbahnladen bekannte Adressen. Vermutlich werden sie alle Design- und Weinoffensiven überdauern. Ihren Gründungseifer haben sie dauerhaft in eine Feier der Selbständigkeit überführt. Harry Nutt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen