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Zehn Tage nachdem Hurrikan „Mitch“ über die Länder Zentralamerikas hereinbrach, können in Honduras die Schäden so langsam überblickt werden. Am schlimmsten hat es den Norden, das landwirtschaftliche und industrielle Herz des Landes, getroffen Aus Tegucigalpa Toni Keppeler

Der Regen läßt die Quellen versiegen

Eine haushohe Geröllawine säumt den Rio Choluteca. Dahinter liegt ein zum Teil mehr als hundert Meter breiter Gürtel aus schwarzbraunem Schlamm. So tief, daß manche Häuser ganz darunter verschwunden sind. Die meisten Straßen, die in Tegucigalpa zum Ufer führen, sind mit gelben Plastikbändern abgesperrt. Die Soldaten dahinter haben immer einen Finger am Abzug, sie sollen verhindern, daß die stehengebliebenen Häuser geplündert werden. Alle tragen weiße Gesichtsmasken, denn über dem Tal des Rio Choluteca wabert ein süßlicher Gestank. Jetzt, da die Sonne die honduranische Hauptstadt immer wieder für Stunden wärmt, machen einem die Ausdünstungen von Schlamm, Abfall, Exkrementen und Leichen zu schaffen.

Je weiter der Wasserspiegel des Rio Choluteca sinkt, desto mehr gibt er das ganze Ausmaß des Desasters frei. Mitten in der Stadt, an der schwer beschädigten Brücke hinüber zur Zwillingsstadt Comayagüela, hat der Fluß einen großen See gebildet. Die Gesundheitsbehörden befürchten, daß sich rund um diese Drecklache in den nächsten Tagen unvermeidlich Epidemien ausbreiten werden.

Zehn Tage nachdem das tropische Unwetter „Mitch“ über Zentralamerika hereinbrach, können die Folgen in Tegucigalpa so langsam überblickt werden. Mehr als 300 Tote oder Vermißte, über 20.000 Menschen in Notunterkünften. Drei Brücken wurden abgerissen, neun so beschädigt, daß nur Fußgänger sich darüber wagen können. 20 Armenviertel wurden verschüttet oder überschwemmt, 80 Prozent der Wasserleitungen sind zusammengebrochen. Der gesamte Markt von Comayagüela ist im Schlamm versunken, und mit ihm, auf der anderen Seite des Flusses, das gesamte Archiv der Sozialversicherung.

In Dollars wurde das Ganze noch nicht umgerechnet. Präsident Carlos Roberto Flores hat die Zahl von mindestens zwei Milliarden Dollar für das ganze Land in die Welt gesetzt. Das freilich ist pure Spekulation. Genauso wie die fünf Milliarden Dollar Schaden, die für ganz Zentralamerika gehandelt werden. Oder die Zahl der Toten, die je nach Quelle deutlich differiert. Sicher kann man nur sagen, daß bislang weit über 10.000 Leichen gefunden wurden. Doch aus manchen Gegenden hat man auch zehn Tage nach dem Unwetter noch immer keine Nachricht.

In der Mosquitia etwa, im Nordosten von Honduras, und im angrenzenden Naturschutzgebiet von Sico Paulaya kommt es auch in gewöhnlichen Regenzeiten zu verheerenden Überschwemmungen. Niemand weiß, ob sich die Menschen dort in höhere Lagen flüchten konnten oder ob sie nicht alle ertrunken sind. Auch von der nördlichen Atlantikküste Nicaraguas kamen erst in den letzten Tagen erste Schreckensmeldungen durch. 500 Leichen, berichtete ein Priester, seien dort den Rio Coco hinuntergetrieben.

In El Salvador sind die Folgen des Unwetters deutlich geringer als in Honduras und Nicaragua. „Mitch“ zog zwar über das ganze Land hinweg. Flächendeckende Überschwemmungen und Erdrutsche aber gab es nur im Südosten, einer Gegend ohne große Industrie und Exportplantagen. Es traf vor allem Kleinbauern und Viehzüchter. Und die Brücken, die der Rio Lempa fortriß, waren mehrheitlich billige Provisorien aus der Zeit des Bürgerkriegs, mit denen die von der Guerilla gesprengten Übergänge ersetzt worden waren. Wenn sich die Schäden in El Salvador bereits auf 1,2 Milliarden Dollar summieren, reichen die von Flores genannten zwei Milliarden für Honduras bei weitem nicht aus. Denn in Honduras gibt es keinen Landstrich, der nicht von „Mitch“ in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Und am schlimmsten hat es den Norden getroffen, das landwirtschaftliche und industrielle Herz des Landes. Noch zehn Tage nachdem der Hurrikan dort auf Land stieß, steht das halbe Sula- Tal unter Wasser, sind noch immer Dutzende von Siedlungen von den Fluten eingeschlossen.

Dort, im Norden Honduras', sind die großen Bananenplantagen der US-amerikanischen Fruchtkonzerne. Dort stehen riesige Zuckerrohrfelder und neuerdings hektarweise afrikanische Ölpalmen. Es werden Zitrusfrüchte und Melonen für den Export angebaut. In den Gegenden, die für die Exportlandwirtschaft genutzt werden, stand das Wasser zum Teil so hoch, daß die Ölpalmpflanzungen nicht einmal mehr zu sehen waren. Von den Bananenplantagen ganz zu schweigen. Die honduranischen Ableger der US-Konzerne, die Standard Fruit und die Tela Railroad Company, sprechen von einem Totalausfall. Daneben gibt es in der Gegend auch Dutzende von Kooperativen. Man rechnet damit, daß im ganzen nächsten Jahr keine einzige Chiquita- oder Dole-Banane exportiert werden wird. In Deviseneinnahmen ausgedrückt ist dies ein Ausfall von mindestens 250 Millionen US-Dollar.

Ähnliches gilt für das Katastrophengebiet im Nordwesten von Nicaragua. Auch dort standen neben wenig rentablen Baumwollfeldern Bananenplantagen, die früher einmal der Standard Fruit Company gehörten. Mit der sandinistischen Revolution hat sich der Konzern zurückgezogen und kontrolliert seither nur noch die Vermarktung. Die Pflanzungen gehören heute Kooperativen. Die tragen das volle Risiko und jetzt auch die Verluste.

Die Verluste in der zentralamerikanischen Kaffee-Ernte werden auf eine Größenordnung zwischen 10 (in Costa Rica) und 40 Prozent (in Honduras) geschätzt. Die Produzenten können kaum darauf hoffen, diese Einnahmeverluste durch höhere Weltmarktpreise auch nur einigermaßen wettmachen zu können. Die zentralamerikanischen Länder sind im Vergleich zu Brasilien Kaffeezwerge und weit davon entfernt, einen die Preise anheizenden Engpaß auf dem Markt erzeugen zu können. Nur die lokalen Verbraucher werden mehr zahlen müssen.

Auf ein Leben ohne Kaffee mögen sich die Zentralamerikaner einstellen können. Auf eines ohne Reis, Bohnen und Maistortillas nie. Die Ernte dieser Grundnahrungsmittel hat „Mitch“ in Honduras zu 60 bis 70 Prozent vernichtet. Die Versorgungslage war schon vor dem Hurrikan prekär. In ganz Zentralamerika setzen die neoliberalen Agrarpolitiker seit Jahren nur noch auf den Export. Gefördert werden große, industriell betriebene Betriebe, die Produktion von Grundnahrungsmitteln blieb den subsistenzwirtschaftenden Kleinbauern überlassen. Honduras hat seit 1992 seine Maisimporte vervierfacht. Die wenigen Devisen, die das hochverschuldete Land hatte, wurden für ein Produkt ausgegeben, das man früher selbst exportierte. Nach „Mitch“ sind die meisten Devisenquellen fürs erste versiegt. Doch das Land wird vorerst noch viel mehr Mais importieren müssen.

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