: Ein Gefühl der Irritation
Judith Hermann legt mit „Sommerhaus, später“ ein für die neunziger Jahre absolut untypisches Debüt vor – und landet mit ihren Erzählungen einen großen Erfolg ■ Von Susann Rehlein
Verlusterfahrung, unbestimmte Sehnsucht, Verlorenheit bilden den Grundton der Erzählungen in Judith Hermanns überzeugendem Debüt „Sommerhaus, später“. Ein Geruch, der an irgend etwas Vergangenes erinnert, eine Frau, „an die man sich noch Jahre später mit dem Gefühl eines ungeheuren Verlustes erinnert“. Die Sprache, sinnlich, bedächtig, dezent, trägt die Geschichten nicht vor sich her. Sie scheinen auf zwischen einer Floskel, beiläufigem Fragen, einer Lüge. Die 28jährige Judith Hermann erzählt vom letzten Traum eines Alten so präzise wie vom Warten und der Müdigkeit eines jungen Malers. Die Gerüche des einen, sein Herzrasen, ratlose Denkspiralen, „Zeit. Und Zeit... die Zeit und die Zeit“, sind für den Leser so plastisch wie die lässige Ignoranz des anderen. Es kommt vor, daß die Autorin selbst der Kraft ihrer Sprache unterliegt, daß die Metaphern nicht stimmig oder zu grell geraten. Diesem Buch wäre ein sorgfältigeres Lektorat zu wünschen gewesen. Zeit eben.
„Sommerhaus, später“ ist ein Buch über das Erzählen. Immer wieder geht es um die Funktion von Geschichten: Wie viele braucht man für ein erfülltes Leben? Muß man sich von den Geschichten der Vorfahren emanzipieren, um eine eigene Identität zu finden? Vielleicht lohnt es, wird gemutmaßt, das Leben aufzuwiegen gegen eine gute Geschichte. Für einen Neuanfang oder eine Liebe reicht die Begeisterung der Figuren ohnehin nicht. Da ist keiner naiv genug oder dumm genug für hochfahrende Träume. Dem alten Hunter kommt die hoffnungsvolle Störung durch ein junges Mädchen sehr ungelegen. Sie wird ihn enttäuschen, er schenkt ihr dennoch seine Musik, das einzige, was er hat, außer: Zeit. Vermutlich wird es keine weitere Störung geben. Er wohnt seit Jahren in diesem Hotel, wird bis zu seinem Tod dort wohnen. Er behauptet, fortgehen zu können, wann immer er will. Ist das Freiheit? Jeden Tag darauf bestehen, daß der Hotelbesitzer nach Post sieht, obwohl keine kommt. Ein Verkäufer, der mit seinen Gästen Whisky trinkt und der seit Jahren nichts mehr verkauft. Das Beharren, die Eigenbrötelei haben in der beschleunigten, entfremdeten Welt durchaus subversive Kraft, bei McDonalds hat einer Leute erschossen wegen ein paar Gurkenscheiben.
Judith Hermanns Erzählungen bewegen sich in der Spannung zwischen gelebtem und versäumtem Leben. Der Versuch, alles zu ändern, scheitert. Ungenutzten Chancen wird lange nachgetrauert. Geschichten vom verlorenen Glück: Man stirbt nicht, wenn die Frau, die man liebt, weggegangen ist, wenn das geschenkte Haus abgebrannt ist. Vielleicht gibt es das alles gar nicht: Liebe, die Frau wollte nie berührt werden. Frieden, das Haus war eine Ruine. Erzählt wird im Tonfall eines, der weiß, daß nichts Gigantisches mehr passieren wird, ganz gleich, wie man sich entscheidet. Obwohl die Figuren nicht denunziert werden, muß jeder Traum aus dieser Perspektive aussehen wie Selbstbetrug. Alltag: ein Abend auf Drogen, Schlittschuhlaufen mit Freunden, mehr ist nicht drin. „Manchmal habe ich auf der Straße das Gefühl, jemand laufe dicht hinter mir her, ich drehe mich dann um, und da ist niemand, aber das Gefühl der Irritation bleibt.“
Für die schnellen neunziger Jahre scheinen die Erzählungen absolut untypisch: langsam, mit geradezu altmodischem Zungenschlag und unprätentiös. Während die Trashpiloten, Helden des Jetzt, stürmen und sich die Seele aus dem Leib kotzen, bewegen sich Judith Hermanns Figuren in der Entropie, trinken stur ihren Rotwein und zerreißen im Höchstfall ein Spinnennetz. Die einen ersehnen die große Katastrophe, den Tod, als einzig sinnstiftendes Ereignis und Beweis ihrer Existenz. Die anderen stehen der Überbietungs- und Spaßkultur apathisch gegenüber. Beide werden es zu nichts bringen und wollen das auch nicht. Keine Hoffnung. Ende der Utopien. Oder der Lügen.
Judith Hermann: „Sommerhaus, später“. Erzählungen. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998, 188 Seiten, 20 DM
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