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Kapitalismus ist Kultur

Von gesellschaftlicher Indifferenz keine Spur: Ein Kongreß in Essen diskutierte Zukunftsentwürfe  ■ Von René Aguigah

Das ist schwierig für einen alten Professor.“ Dieter Henrich blinzelt unbehaglich ins Scheinwerferlicht, rückt das Mikrofon zur Seite. „Hier oben, das ist eine Bühne und kein Podium: Ich sehe Sie nicht, und mich selber höre ich kaum.“ Man mußte mehr können als nur scharf denken auf dem Kongreß des Essener Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI). Längst haben die Imperative der Medien auch auf solchen Veranstaltungen Einzug gehalten. Und das heißt auch: Ohne gute Performance gibt's beim Publikum keine Punkte.

Das ist kein Anlaß zu Pessimismus, denn immerhin: Um den Wissenstransfer der Kulturwissenschaft scheint es nicht allzuschlecht bestellt zu sein. Auf der Pressekonferenz erklärte KWI-Präsident Jörn Rüsen, warum Kultur als lebensermöglichende Sinnbildung des Menschen über seine Welt und sich selbst notwendig ist: „Sie wissen doch, was Menschen tun, wenn sie keinen Sinn mehr sehen: Sie bringen sich um.“ Vor ihm Mikrofone und Kameras, hinter ihm ein Plakat mit der Kongreßüberschrift: „Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung“. Ob die Kulturwissenschaften denn in der Praxis überhaupt gefragt seien, will eine Journalistin wissen. „Wir müssen nicht anklopfen in den gesellschaftlichen Institutionen“, entgegnete Rüsen, „sondern wir werden herzlich eingeladen mitzuarbeiten – zum Beispiel in den Ethik-Kommissionen der Krankenhäuser.“ Gert Kaiser dagegen, Präsident des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen, fand Diskussionen in Ethik- Kommissionen nicht hinreichend. Und Jan Philipp Reemtsma meinte, es ändere sich sowieso nichts, nur weil ein Politiker die Meinung eines Kulturwissenschaftlers zur Kenntnis nehme.

Die sanfte Verwirrung der Herren während der Pressekonferenz ist symptomatisch für den Zustand der Kulturwissenschaften in Deutschland. Es gibt keinen klaren Begriff davon, was Kulturwissenschaften eigentlich sind. Ein Label, das schlicht die alten Geistes- und Sozialwissenschaften neu bezeichnet? Oder der Versuch, die Grenzen der Disziplinen neu zu ziehen und die verstaubten Philologien thematisch und methodisch zu erweitern? Antworten auf diese Fragen fand der Kongreß nicht. Aber über eins herrschte Konsens: Kapitalismuskritik gehört in die Kulturwissenschaft – wenn auch unter anderen Vorzeichen als 1968, der Zeit, in die die akademische Sozialisation der meisten Vortragenden fällt.

Etwa die von Richard Sennett, dem global player der Soziologie. Er stellte in Essen seine Thesen zur Kultur des neuen Kapitalismus vor. Das postindustrielle System habe die Raum- und Zeitmodelle der Arbeitswelt tiefgreifend verändert. Langfristig verlaufende Karrieren hätten ihre Bedeutung eingebüßt zugunsten kurzfristiger Jobs. Vertrauensverlust zwischen den Kollegen, Sinnverlust im Arbeitsethos seien die Folge. Doch diesem Leben als berufsmäßiger Risikofreudiger halte nur eine gut ausgebildete Elite stand. Die Fragmentierung der Arbeitswelt findet laut Sennett ihre Entsprechung in der postmodernen Theorie. Das Verbindende zwischen Theorie und Praxis sei Distanz. Teamwork, das auf wenige Monate begrenzt sei, schaffe Abstand unter den Arbeitnehmern, genauso wie die ironische Rede der Postmoderne eine distanzierende Technik sei.

Eine fatale Entwicklung, so Sennett: Die linke Kritik müsse nach Jahren der Depolitisierung sich endlich wieder engagieren. Zweifellos eine überzeugende Performance, aber der Vortrag enttäuschte doch: Inhaltlich ging Sennett kaum über das hinaus, was er erst vor einem halben Jahr in seinem empirisch unterfütterten Essay „Der flexible Mensch“ veröffentlicht hat. Der Buchhändler im Foyer immerhin war zufrieden; am Abend war der Stapel mit den Sennett-Büchern restlos ausverkauft.

Tags zuvor gab es einen leibhaftigen Protagonisten eben jenes untersuchten neuen Kapitalismus zu bestaunen: George Soros. Der Laissez-faire-Kapitalismus müsse mit Hilfe demokratischer Regeln gebändigt werden, forderte er und mußte sich dafür aus dem Publikum als Heuchler beschimpfen lassen. Schließlich hat der „Finanzier und Spekulant, Philanthrop und Philosoph“ (Soros über Soros) sein Milliardenvermögen an der Börse gemacht. Dagegen bezeichnete ihn die Soziologin Nilüfer Göle als kapitalistischen Avantgardisten, weil er seine Spekulationspraxis eher emotional als rational begründe und die Finanzwelt so gewissermaßen um ein feminines Element bereichere.

Dieses Element konnte Josef Wieland (Witten) in seiner Beschreibung des Gegenwartskapitalismus nicht entdecken. Im Gegenteil: Nach wie vor sei Marktwirtschaft ohne die „Kontrolle der Affekte“ im Sinne der angelsächsischen Moralphilosophie der Aufklärung nicht vorstellbar. Hinzu kommen Wettbewerb und Kooperationsfähigkeit. Dies aber, so Wieland, sind kulturelle Parameter. So versuchte er, Kapitalismus als Kultur zu denken, nicht allein als abstrakten Marktmechanismus. Daraus folgt, daß sich die kapitalistische Praxis wie jede Kulturtechnik verändere. Wielands These: Die Marktgesellschaft bewegt sich auf eine „Governancegesellschaft“ zu. Hier trete der Dualismus zwischen Markt und Staat zurück. Statt dessen entwickele sich eine „Gesellschaft freier Bürger, die sich entscheidet, welche ihrer Aufgaben sie durch welche Governancestruktur erledigen möchte“ – Markt, Staat, Unternehmen oder NGOs wie Greenpeace.

Wer sehnsüchtig lauschte, entdeckte hier den verborgenen Rest einer postkapitalistischen Utopie, die allerdings einen Punkt außer acht ließ: Was passiert während der ökonomischen Transformationsprozesse der Nordhalbkugel mit den Menschen, die in den kapitalistischen Systemen nicht vorkommen? Adjai Oloukpona-Yinnon, Literaturwissenschaftler aus Togo, stellte diese Frage und erntete ratloses Schweigen auf dem „Kapitalismus“-Podium.

Aber für Fragen dieser Art gab es eine Extraabteilung, die „Exotensektion“, wie sie Oloukpona- Yinnon leicht resigniert nannte. Er und seine KollegInnen aus Indien, Malaysia, Korea und Japan beharrten darauf, daß sich die Entwicklung nichtwestlicher Kulturen nicht auf einer Zeitachse abtragen ließe, nach der sie die (westliche) Moderne noch vor sich hätten. Doch ihre Mahnungen verhallten am späten Freitag nachmittag vor fast leeren Stuhlreihen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die global players bereits in Flugzeugen und Zügen.

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