piwik no script img

Die Legende von der heiligen Trinkerin

In den Vierzigern schockierte Chavela Vargas die Männerwelt Mexikos: Sie trat in Hosen auf, sang von der Liebe zu anderen Frauen und trank die Typen unter den Tisch. Von Feministinnen und Filmern wiederentdeckt, erlebt die Totgeglaubte ein spätes Comeback  ■ Von Erwin Dettling

In der Ferne hallen Detonationen eines Feuerwerks an den Felsen des Tepozteco wider. Ortskundige erzählen, der Revolutionär Emiliano Zapata habe 1910 in den Höhlen des Bergmassivs Waffen gelagert. Das Dorf Tepoztlán, eine Autostunde südlich von Mexiko-Stadt, ist bis heute in Bewegung geblieben. Mick Jagger kam während seiner letzten Lateinamerika-Tournee auf ein Bier nach hierher. Militante Tepoztecos führten in den vergangenen zwei Jahren einen erbitterten Kampf gegen ein Baukonsortium, das in einem Naturreservat einen Golfplatz plante. Die Golfer unterlagen.

Hier lebt Chavela Vargas, die Legende des iberoamerikanischen Gesangs. Die Sängerin, die mit Billie Holiday und Edith Piaf verglichen wurde, ist aktueller denn je – sie hat den Draht zu einer jungen Generation gefunden und, nach langer Funkstille, sogar neue Platten eingespielt.

Die lallenden Säufer auf der Straße vor ihrem schlichten Adobe-Haus nimmt Chavela Vargas kaum wahr. Sie weiß, was Schnaps ist, schließlich will sie selbst 45.000 Liter Tequila getrunken haben. Jetzt, mit 79, ist sie trocken und auf dem Höhepunkt ihrer künstlerischen Laufbahn.

In den letzten Jahren ist sie in den großen Konzertsälen von Spanien aufgetreten, in Madrid, Sevilla, Valencia, hat Auszeichnungen entgegengenommen und im Olympia in Paris gesungen. Der spanische Filmer Pedro Almodóvar verglich Chavela Vargas mit Billie Holiday; in Paris maßen sie Kritiker an Edith Piaf. Almodóvar brachte sie nach Spanien und stellte für sie die Verbindungen zur Plattenindustrie her. Der deutsche Filmer Werner Herzog nahm Chavela Vargas Anfang der neunziger Jahre mit nach Patagonien, wo sie im Film „Schrei aus Stein“ eine Indianerin spielte.

Geriatrie-Riege und HipHop-Generation

Dreißig Jahre nach einem ersten Höhepunkt haben Chavelas ergreifende Texte und ihr Gesang vom wilden Leben erneut Marktwert. In den letzten Jahren hat sie in Spanien drei CDs mit Songs iberoamerikanischer Liedermacher eingespielt. Sie singt Titel von José Alfrédo Jiménez, Agustin Lara, Cuco Sanchez, Alfonso Camin, Carlos Gardel, Consuelo Velásquez und Volksweisen. Im hohen Alter hat Chavela Vargas den Graben zwischen der Geriatrie-Riege und dem jungen Publikum überbrückt. Der iberische Rocker Joaquin Sabina feiert die alte Dame sogar in einem Song und einem Videoclip.

Mit mitunter schrillen Tönen bringt Chavela Vargas die dritte Generation von Fans zum Weinen: „Im spanischen Salamanca kam ein 12jähriges Mädchen nach dem Konzert schluchzend in meine Garderobe“, erzählt sie. Weshalb Menschen ob ihrer Lieder den Tränen freien Lauf lassen, erklärt Vargas so: „Ich sage in meinen Songs die Wahrheit, das ist alles. Meine Botschaft geht von Seele zu Seele. Ich leide, du leidest.“

Chavela Vargas' Gesicht spricht Bände; ihr Lebensmotiv ist der Exzeß. Sie liebte en gros, am Anfang Männer, dann immer mehr Frauen. Sie bekannte sich öffentlich zu ihrer Neigung, und das zu einer Zeit, als die gleichgeschlechtliche Liebe in der hispanischen Kultur ein soziales Todesurteil war.

Heute gibt sie sich selbstbewußt: „Vor vierzig Jahren kreiste ich mit meinen Songs das verklemmte Sozialverhalten der Frauen ein. Die Saat ist aufgegangen. Zwar wurde ich für meinen lasziven Lebensstil beinahe zu Tode geprügelt. Aber jetzt ist normal, was ich vor vier Jahrzehnten lebte. Wer außergewöhnliche Dinge tut, ist gezeichnet.“

Freunde von Frida Kahlo bis Marquez

Lasziv war damals schon, daß Chavela Vargas in Hosen auftrat und im bunten Poncho, barfuß oder in Sandalen auf der Bühne stand, Zigarren rauchte, zu Pferd und mit dem Colt am Gurt vor den Musikspelunken aufkreuzte und die Machotypen unter den Tisch trank. „Der Tequila machte mich aggressiv, beseitigte meine natürliche Scheu und nahm mir auf der Bühne das Lampenfieber und die Angst.“ Ein Irrtum, wie sie jetzt bekennt. „Heute trinke ich keinen Tropfen Alkohol mehr und habe vor nichts mehr Angst, auch nicht vor dem Tod.“ Getragen von ihrem Publikum, hat sich Chavela Vargas von den Konventionen ihrer Gesellschaft befreit und die Bescheidenheit abgelegt. In Superstar Madonna erkennt sie sich wieder. „Glauben Sie nicht, es sei leicht, was Madonna macht. Erst, wenn gewöhnlich ist, was Madonna heute tut, werden wir wissen, wie diese Frau gelitten hat.“

In weiten Teilen der iberoamerikanischen Welt galt Chavela Vargas bis vor kurzem als verschollen und unrettbar dem Tequila ergeben. Sie trat nicht mehr auf, die Schallplatten mit ihrer Musik verschwanden aus Madrid, Buenos Aires, Caracas und Mexiko-Stadt. Ihre Tapes waren in der mexikanischen Hauptstadt nur noch raubkopiert auf dem Schwarzmarkt von Tepito zu finden. Orfeon, Vargas' lokales Label, schien an der alten Dame jedes Interesse verloren zu haben – bis eben Almodóvar und Herzog die Frau ans Licht zerrten. Jetzt hat Orfeon Chavelas Musik opportun digital neu abgemischt; es gibt ein Dutzend neue CDs mit Musik von Chavela Vargas. Doch während Warner Music und Orfeon mit ihrem Material Geld machen, bleibt Chavela Vargas arm: „Ich singe nur, was mir paßt, und trete nur dort auf, wo es mir Spaß macht. Das mißfällt vielen Veranstaltern. Deshalb habe ich nichts.“

Chavela Vargas heißt eigentlich Isabél Vargas Lizano. Ein Leben lang hat sie ihre Biographie manipuliert. Aber die Sprache verrät sie: Ihr zentralamerikanischer Akzent bricht immer wieder durch. Von ihrem Land, Costa Rica, hält sie allerdings nicht viel. Sie ist dort eine Unbekannte. Ende der 40er Jahre trat sie in Acapulco auf, sang im legendären Hotel „La Quebrada“ für Liz Taylor und viele andere Größen der US-Filmwelt, während Teddy Stauffer den Jet-set mit seiner Swing-Band beschallte.

Sie kam nach Mexiko-Stadt, sang im Nightclub von Ernesto Alonso, der auch heute noch als der Starregisseur der mexikanischen Telenovela-Seifenopern gilt. Sie schaffte den Sprung nach New York, gab teure Fiestas in Paris und hatte als Skandalnudel einflußreiche Freunde: Pablo Neruda, die mexikanischen Künstler Diego Rivera und Frida Kahlo, Garcia Márquez und General Lázaro Cárdenas, der 1938 das mexikanische Öl verstaatlichte. Chavela Vargas suchte den Sinn des Lebens in Indien und ertränkte ihre Ängste im Tequila.

Sie trat nicht freiwillig ab von der Bühne. Der Agavenschnaps, für den sie in Mexiko in den sechziger Jahren auf Plakaten geworben hatte, trübte immer mehr ihr Gedächtnis. Sie begann, auf der Bühne zwei-, dreimal das gleiche Lied hintereinander zu singen. Irgendwann verschwand sie von der Bildfläche und zog sich zurück nach Ahuátepec, ein Dorf im mexikanischen Bundesstaat Morelos. „Ich sang nur noch im Benediktinerkloster während der Messe, bis mich die Mönche aufregten. Da machte ich Schluß mit der Musik.“

Sie baute mit den eigenen Händen und Gehilfen ein Haus, tauchte ein ins Universum der prähispanischen Geschichte von Quetzalcoatl, des toltekischen Gottes im Gewand der gefiederten Schlange. Quetzalcoatl galt als Förderer der Künste. Er verbot Menschenopfer und starb – so will es die Legende – auf dem Scheiterhaufen. Auf dem Boden der Wirklichkeit litt Chavela Vargas unter ihrer Alkoholsucht: „Ich war nicht körperlich krank, ich litt seelische Qualen, bis ich schließlich mit Hilfe einer Freundin mit dem Tequila aufhörte. Ich habe eine Leber wie ein Museum. Es ist unerklärlich, warum ich noch lebe. Wir Menschen sind ein Wunder.“

Dann plötzlich, zu Beginn der neunziger Jahre, trat Chavelas in Tepoztlán im „El Alacrán“ („der Skorpion“) auf, einer Gärtnerei, die nachts zur Cantina umgerüstet wurde. Jesúsa Rodriguez trat auf den Plan, eine feministische Selbstdarstellerin und Kritikerin der „perfekten Diktatur“ Mexikos. Vargas sang im El-Hábito-Theater vor Jesúsa – und war gebucht bis ins Jahr 2006 als sentimentaler Soundtrack verschollen geglaubter Gefühle.

Eine Leber wie ein Museum

Sie sang jetzt ihren Hit von damals, „Macorina“, als Talking-Blues. Der Song hat in den vergangenen vierzig Jahren schon tausend bittere Nächte von Guerillakämpferinnen und -kämpfern versüßt, von der kubanischen Sierra Maestra Che Guevaras bis zum Rio San Juán in Nicaragua von Daniel Ortega. „Macorina“ ist eine 300 Jahre alte Geschichte, die auf König Karl IV. zurückgeht. Des Königs Botschafter in Kuba soll Seiner Majestät in verschlüsselter Form von der himmlischen Macorina berichtet haben, erzählt Chavela Vargas. Was bedeutet Macorina? „Macorina ist Programm für die Jugend, ein Schrei nach Freiheit und Humanität; Macorina ist Sexgeflüster und Sinnlichkeit, Macorina ist alles“, sagt Chavela.

„Leg die Hand dahin, Macorina / Leg die Hand dahin. / Deine Brüste, Fleisch wie Honigäpfel, / Dein Mund ein Segen reifer Guanabana. / Deine feinen Hüften wie ein Danzón. / Leg die Hand dahin, / Leg die Hand dahin, Macorina ...“

Nach dem letzten Akkord von „Macorina“ im El-Hábito-Theater in Mexiko-Stadt hatten die Menschen Gänsehaut. „Chavela hat soeben Steine in Sterne verwandelt“, sprach ihre Förderin Jesúsa Rodriguez am Ende des Songs ins Mikrofon.

Aus dem Gig bis ins Jahr 2006 im El Hábito wurde trotzdem nichts – Chavela Vargas ist zu viel beschäftigt. Bis heute ist sie die einzige Frau in der Mainstream-Musik der hispanischen Kultur, die Hymnen auf Frauen singt und damit Erfolg hat. „Ich gebe der Frau mit meinen Songs neue Würde“, sagt sie und im Plural: „Wir sind herrlich und wunderbar.“

In Deutschland sind von Chavela Vargas erschienen: „Chavela Vargas“ und „DOS“ (beide Tropical Music)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen