: Die WM wird zur Wundertüte
Pete Sampras beschließt zum sechsten Mal in Folge das Tennisjahr als Nummer eins und wähnt sich nun eingegangen in die Ewigkeit. Mit dabei: ein Teller Nudeln ■ Aus Hannover Matti Lieske
ATP-Weltmeisterschaft ist wie Wundertüte. Man setzt sich auf den Platz und wartet, wer kommt. Gestern waren das statt Andre Agassi und Marcelo Rios die Ersatzleute Albert Costa und Greg Rusedski, der sich nach dem gestrigen 6:2, 6:4 gegen seinen britischen Landsmann Tim Henman theoretisch sogar noch für das Halbfinale qualifizieren konnte. Dazu hätte allerdings Alex Corretja gegen Costa verlieren müssen (nach Red.schluß). In der Vorschlußrunde standen bereits Pete Sampras, Henman und Carlos Moya, der am Freitag durch ein 7:5, 7:5 gegen Jewgeni Kafelnikow weiterkam.
Costa hat zwar noch nie ein Spiel in der Halle gewonnen und war als Weltranglisten-14. nicht mal entfernt für dieses Turnier qualifiziert, aber er hatte gerade Zeit. Erstaunt hat dieser muntere Spielertausch niemanden, die ATP-WM ist eben eine Wundertüte.
Verblüfft wären die Leute allerdings gewesen, wenn zum folgenden Match nicht Pete Sampras erschienen wäre, sondern statt dessen Thomas Muster, Gustavo Kuerten oder vielleicht auch Karsten Braasch, der als Eurosport- Kommentator ja überaus verfügbar wäre. Sampras kommt nämlich immer. Mögen noch so viele Kollegen siech darniedersinken, Pete Sampras geht unerschütterlich seinen Weg, und meistens gewinnt er am Ende sogar. Zum neunten Mal in Folge spielt er putzmunter bei der ATP-WM, viermal hat er schon gesiegt, und nun steht auch fest, daß er zum sechsten Mal hintereinander am Jahresende an der Spitze der Weltrangliste steht.
Das hat vor ihm noch niemand geschafft – nicht einmal sein Dauerkritiker Jimmy Connors, der bei fünf steckenblieb – und Sampras ist zuversichtlich, „daß diesen Rekord wahrscheinlich nie jemand brechen wird“. Um den Markstein für die Ewigkeit aufzustellen, hat der 27jährige aus Florida mit einer Verbissenheit geschuftet wie zuvor wohl nur für seinen ersten von bislang elf Grand-Slam-Titeln bei den US Open 1990. Da er das Jahr schlecht begonnen hatte, konnte ihm nur noch ein stachanowistischer Arbeitseinsatz zum Saisonende die nötigen Punkte verschaffen. „Der Wendepunkt war Wimbledon“, sagt er rückblickend, „wenn ich da nicht gewonnen hätte, wäre es verdammt schwer mit der Nummer eins geworden.“
So aber legte er los wie besessen, kam bei den US Open ins Halbfinale und holte in Wien einen von nur vier Titeln in diesem Jahr. Sechs Wochen spielte er in Europa zuletzt durch, bis ihm das Erstrunden-Aus von Stockholm wenigstens ein paar Tage Ruhe vor der WM verschaffte. „Es hat sich gelohnt“, freute sich Sampras am Tag seines Triumphs, auch wenn dieser auf etwas kuriose Art zustande kam, durch Rios' verletzungsbedingte Aufgabe. Er habe gerade allein vor einem Teller Nudeln gesessen, erzählte er, als er via CNN vom Jahrhundertrekord erfuhr.
Groß Zeit zum Feiern blieb ihm nicht, am Abend mußte er gegen Karol Kucera antreten. Ein bedeutungsloses Match: das Halbfinale längst erreicht, Kucera schon chancenlos – mancher hätte da Dienst nach Vorschrift absolviert. Nicht so Pete Sampras. Er spielte das beste Tennis, das man bisher bei dieser WM gesehen hatte, und riß die Zuschauer von den Sitzen. Nach dem 6:2, 6:1 gab es Ovationen für den Sieger. „Die Leute sind gekommen, um gutes Tennis zu sehen“, so Sampras, „und ich hatte mir vorgenommen, mein Tennis einfach zu genießen und Spaß zu haben.“
Tatsächlich scheint die Zeit gekommen zu sein, in der nicht nur er, sondern auch andere Spaß an seiner Perfektion haben. „Jahrelang mußte ich mir, wenn ich Wimbledon oder die US Open gewann, anhören, daß der Tennissport in der Krise stecke und schrecklich langweilig geworden sei“, offenbart er seine Verletzung über die dauerhafte Mißachtung, „in den letzen beiden Jahren habe ich jedoch das Gefühl, daß mir mehr Anerkennung und Respekt entgegengebracht wird.“
Gleichzeitig spürt er aber auch die Folgen des seelischen und physischen Verschleißes. Zwar ist er aufgrund seines rationellen Stils längst nicht so stark dem körperlichen Raubbau ausgesetzt wie etwa Rios oder Agassi mit ihrer beidhändigen Rückhand, doch die Begeisterung, mit der er schier unaufhörlich von den freien Tagen vor der ATP-WM schwärmte, wo er nur Golf gespielt habe, ließ eine gewisse Tennismüdigkeit erkennen. „Sehr attraktiv“, meinte er, sei es für ihn, mal zwei Monate Pause zu machen, und allein der Gedanke zaubert einen träumerischen Ausdruck in sein Gesicht. Im Weg steht solchen Überlegungen sein nach wie vor brennender Ehrgeiz. Solange er zum siebten Mal die Nummer eins werden kann, solange er die French Open noch nicht gewonnen hat, solange immer noch der Gedanke an den Gewinn des Grand Slams in seinem Kopf herumspukt, ist ein Moratorium kein Thema. „Wenn ich den Grand Slam gewonnen habe“, sagt er, „könnte ich mal auf Australien verzichten, das wären dann zwei Monate Pause.“ Sampras ist wohl der einzige Tennisprofi, der den Gewinn aller vier großen Tennisturniere in einem Jahr überhaupt noch in Erwägung zieht. Und er ist wohl auch der einzige, der es schaffen könnte.
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